Abschied vom Phal­lozän – Gertraud Klemm

Eine Rezen­sion von Roswitha Perfahl 

Gertraud Klemms scharfe Patri­ar­chats­kritik „Abschied vom Phal­lozän“ ist eine Streit­schrift und kein ausführ­li­ches Sach­buch. Seit den 1990er Jahren erfolgt ein patri­ar­chaler Back­lash, der Frauen zwingt, einmal mehr ihre erkämpften Rechte wieder zu vertei­digen. Hinter Kapi­ta­lismus, Neoli­be­ra­lismus, Kolo­nia­lismus, Impe­ria­lismus und Rassismus steckt als Endgegner das Patriachat. Eine Gewalt­herr­schaft weniger Männer, so Klemm.
Die Autorin beklagt den Mangel an soli­da­ri­schem Handeln, die Aufsplit­te­rung des Femi­nismus in zahl­reiche Lager, die durch „kanni­ba­lis­ti­sche Tendenzen“ auffalle. In einem eigenen Kapitel übt sie Reli­gi­ons­kritik, da derzeit keine Reli­gion exis­tiere die nicht zutiefst frau­en­feind­lich und patri­ar­chal ist. Jedoch ist die Autorin weit davon entfernt, Spiri­tua­lität an sich gänz­lich abzu­lehnen. Auch ein weiteres Werk­zeug der Welt­erklä­rung, die Philo­so­phie, wird, da Frauen bereits früh aus ihrer Geschichte hinaus­ge­schrieben bzw. ihnen Defi­ni­ti­ons­macht verwehrt wurde, als patri­ar­chales Macht­mittel entlarvt. Die Autorin thema­ti­siert, wie viele Formen von Miso­gynie im Vergleich mit anderen Diskri­mi­nie­rungs­formen noch akzep­tiert sind.
Nicht das Anthro­pozän habe die Welt auf dem Gewissen, sondern das „Phal­lozän“, ein Begriff, der in „verschie­denen Spra­chen für unter­schied­liche destruk­tive Ausprä­gungen des Patri­ar­chats benutzt [wird]; ich möchte mit ihm das Zeit­alter eines völlig aus dem Ruder gelau­fenen Patri­ar­chats verbild­li­chen, das sich an die Schalt­stelle aller Mächte kata­pul­tiert hat und von dort aus seine zerstö­re­ri­sche Kraft ausübt.“ (S.12)

Klemm bleibt nicht bei der Bestands­auf­nahme der trau­rigen Gegen­wart, wo patri­ar­chale Klischees im neuen Tech-Gewand zele­briert werden, sondern schlägt vor, sich die Funk­ti­ons­weise von Matri­ar­chaten anzu­sehen, die, muss ergänzt werden, in ihrer heutigen Form von patri­ar­chalen Struk­turen durch­zogen sind, da auch sie, wie alle Kultur­formen einem histo­ri­schen Wandel unter­liegen. Mit ungläu­bigem Staunen lese ich, dass die Matri­ar­chats­for­schung, die ich seit meinem femi­nis­ti­schen Erwa­chen im vorigen Jahr­hun­dert kenne, an Gene­ra­tionen von Frauen vorbei­ge­gangen sei. Wurde diese Forschung von der Main­stream­wis­sen­schaft so umfas­send unter­drückt, oder haben immer wieder Frauen selbst geglaubt, der Femi­nismus sei obsolet und sie bräuchten ihn nicht mehr? So wurde die Matri­ar­chats­for­schung in eine esote­ri­sche Schmud­del­ecke abgedrängt.

Klemm fordert nicht nur die neuer­liche, inten­sive wissen­schaft­liche Beschäf­ti­gung mit matri­ar­chalen gesell­schaft­li­chen Orga­ni­sa­ti­ons­formen, sondern erzählt auch von rezenten Versu­chen sich matri­ar­chal zu orga­ni­sieren, an einem Beispiel aus Südame­rika (Nashira, Cali, Kolum­bien) zeigt. Matri­ar­chate seien keine umge­kehrten Patri­ar­chate, keine Frau­en­ge­walt­herr­schaft, wie sie von Männern in verschie­denen Epochen als Warnung fanta­siert wurden, sondern durch Gewalt­lo­sig­keit, Egalität und konsen­suale Entschei­dungs­fin­dung geprägt.

Zwei kriti­sche Anmer­kung seien erlaubt: Irri­tie­rend ist erstens, dass Klemm das Patri­ar­chat nur auf die west­liche Welt und deren Kolo­ni­al­ge­schichte bezieht. Der Text sugge­riert, von Kolo­nia­lismus, Impe­ria­lismus und Rassismus ausge­hend, dass Europa für die Verbrei­tung des Patri­ar­chats verant­wort­lich sei. Aber das Patri­ar­chat ist keine Erfin­dung Europas oder „der Weißen“, was ange­sichts des im Text ange­ge­benen Alters dieser Herr­schafts­form von 5000 Jahren ein Wider­spruch wäre. Eine globale Heran­ge­hens­weise wäre logisch und sinn­voller gewesen, und findet sich abseits der immer wieder betonten Engfüh­rung auf Europa da und dort im Text.
Groß­reiche, die alles schluckten, was schwä­cher war, gab es immer reich­lich. Und dem Absatz über die Recon­quista könnte man die vorher erfolgte Erobe­rung entge­gen­stellen und den damit verbun­denen Rückzug in früh­christ­liche Flucht- und Wehr­kir­chen in den Pyre­näen. Es ist wohl eine Verir­rung, den einen Erobe­rungs­krieg als fried­li­cher als den anderen Vertei­di­gungs­krieg darzu­stellen. Sowie auch die Rolle der mitwir­kenden arabi­schen und afri­ka­ni­schen Skla­ven­händler unter den Tisch gekehrt wird, die jene weißen Kolo­ni­sa­toren mit reich­lich „Mate­rial“ versorgten. Der Reichtum einiger afri­ka­ni­scher König­reiche (Dahomey, Benin) ging auf Skla­verei zurück, was nicht immer thema­ti­siert wird. Gelten patri­ar­chale Impe­rien als wenige schlimm, wenn sie nicht euro­pä­isch waren?

Auch würde ich es zwei­tens als Fehl­schluss bezeichnen, dass Skla­verei, Kolo­nia­lismus usw. als Folge von Huma­nismus und Aufklä­rung statt­fanden, zumin­dest entsteht beim Lesen dieser Eindruck. Die Autorin schreibt von „huma­nis­ti­scher Pleite“, „histo­ri­scher und huma­nis­ti­scher Schäd­lich­keit“ (S.8, 44–47), „globalem, huma­nis­ti­schem Total­ver­sagen“ (60, 101). Viel­mehr entstanden diese Denk­rich­tungen als Reak­tion auf Gewalt­herr­schaften und trotz derselben. Folge­richtig bezogen und beziehen sich noch heute diskri­mi­nierte Gruppen auf die Errun­gen­schaften der Aufklä­rung, wie Menschen­rechte und Demo­kra­ti­sie­rungs­pro­zesse, um ihre Gleich­be­rech­ti­gung durch­zu­setzen: Von Juden/Jüdinnen, den sich entwi­ckelnden Natio­na­li­täten, Arbei­te­rInnen im 19. Jahr­hun­dert… bis zu den Frauen.
Ein solcher Fehl­schluss verleitet übri­gens dazu, Aufklä­rung, Menschen­rechte und damit auch Demo­kratie und Frau­en­rechte als ‚weiß‘, ‚west­lich deka­dent‘ und daher ‚kolo­nia­lis­tisch‘ zu denken und alte patri­ar­chale Gewalt­struk­turen als schüt­zens­werte „nicht­west­liche Tradi­tionen“ zu legitimieren. 

Da das Patriachat die ganze Welt über­zieht, bleibt zu hoffen, dass die Streit­schrift „Abschied vom Phal­lozän“ als Text mit globalem und univer­sellem Anspruch gelesen wird. In weiten Teilen der Welt sind Frauen noch weit entfernt von rudi­men­tärer Gleich­stel­lung, und in der soge­nannten west­li­chen Welt wird mit aller Macht ein verhee­render Back­lash betrieben. Gertraud Klemms Text erin­nert, schreckt auf und demons­triert, wie schnell Frauen wieder unter die patri­ar­chalen Räder kommen können, und dass einmal erlangte Rechte immer wieder erkämpft werden müssen. Eigent­lich ist es zum Verzweifeln!

Also wieder von vorne beginnen, zurück zum Anfang, auf Null? Ja, schreibt Gertraud Klemm, wir müssen wieder „femi­nis­ti­sche Drecks­ar­beit“ leisten. (S.123)

Zu hoffen bleibt, dass der Text Anlass liefert für ausgie­bige Diskus­sionen auf breiter Basis, die den Diskurs und somit die Realität endlich weg vom Phal­lozän verschieben. Es wäre Zeit für eine funda­men­tale Wende in der Mensch­heits­ge­schichte. So wie akzep­tiert werden musste, dass die Sonne nicht um die Erde kreist, so kreist die Welt nicht um den Mann.

 

Roswitha Perfahl, August 2025

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfasser:innen verantwortlich.

 

Gertraud Klemm: Abschied vom Phal­lozän: Eine Streit­schrift
Berlin: Matthes & Seitz 2025
144 Seiten
20 EURO
ISBN 3751820876, 9783751820875

 

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