Der, die oder das Essay
Texte von Annemarie Rieder und Alexandra Schneider
Annemarie Rieder
EIN WILLE GESCHEHE
Niki Glattauer hat es durchgezogen. Er nützte das seit 1.1.2022 bestehende Sterbeverfügungsgesetz, um seinem Leben ein selbstbestimmtes Ende zu setzen. Darüber hinaus bediente er sich auch dankenswerterweise seiner Prominenz, um die Tatsache bzw. die Umstände rund um den „assistierten Suizid“ aus einem Schattendasein heraus ins Rampenlicht zu holen. Mittels eines sehr gründlichen Interviews, das – seinem ausdrücklichen Wunsch entsprechend – eine Woche vor seinem Ableben im Nachrichtenmagazin Falter erschienen ist. Nur so bekomme das Thema würdiges Sterben die nötige Aufmerksamkeit!
In Österreich reicht leider nicht – wie in unserem Nachbarland Deutschland – nur der freie Willensausdruck zum selbstbestimmten Sterben, sondern man muss definitiv unheilbar erkrankt sein. Es sind mehrere ärztliche Gutachten notwendig und auch eine von einem Notar auszustellende Bescheinigung. Die gesetzlich festgehaltene dreimonatige Wartefrist kann auf zwei Wochen reduziert werden, wenn das Leiden bereits sehr fortgeschritten ist.
Geld macht zwar nicht glücklich, aber im Zusammenhang mit dem durch gesetzliche Genehmigung geadelten Wunsch nach assistiertem Suizid ist es sicher nicht unwichtig, über gewisse Geldreserven zu verfügen. Die Spezialisten, welche den „Todesanspruch“ medizinisch bestätigen müssen, zum Beispiel der den letzten Willen beglaubigende Notar und last but not least jene/r Mediziner/welche/r die tödliche Dosis verabreicht, kosten insgesamt einige tausend Euro.
Wäre nicht Österreich, krähte nicht spätestens einen Tag nach dem gewissermaßen cora publico erfolgten Freitod der erste Hahn seine Meinung in die Welt. Ein ehemaliger Nationalratsabgeordneter der ÖVP, jener Partei, die sich seit 1963 auf christliche Werte beruft, erklärt nur einen Tag nach Niki Glattauers Ableben in einer schriftlichen Aussendung im Ausmaß einer A4-Seite, dass ein selbstbestimmter Tod seiner Meinung nach im klaren Widerspruch zu einem selbstbestimmten Leben stehe. Das im Nationalrat beschlossene Gesetz wird in der Stellungnahme zwar definitiv erwähnt, nimmt aber in meinen Augen durch den „klaren Widerspruch zu einem selbstbestimmten Leben“ einen eigenartigen Nimbus an.
Natürlich herrscht in Österreich Freiheit der Meinungsäußerung. Aber Niki Glattauers Schritt in die Öffentlichkeit erscheint mir berechtigter als jener von Franz Josef Huainigg. Ich persönlich würde mir wünschen, dass mehr Offenheit im Umgang mit einem selbstgewählten Lebensende dazu beitragen könnte, den Schleier des Schweigens um das Thema „Assistierter Suizid“ peu à peu zu lüften.
Alexandra Schneider
Wer bestimmt über das Sterben?
Wurden Sie gefragt, ob Sie auf diese Welt geboren werden wollten? Nein? Ich auch nicht. Wer nimmt sich die Freiheit heraus, mich in meiner Freiheit zu beschränken? Zuerst die Eltern, später die Lehrer, Arbeitgeber, Partner, Freunde, eigene Kinder und jetzt vielleicht Sie? Kann ich trotz all dieser Beschränkungen wenigstens frei entscheiden, wann und wie ich die Welt verlassen möchte?
Allein, dass ich mir erlaube, diese Frage zu stellen, wird bei einigen zu einem Stirnrunzeln oder sogar zur offenen Empörung führen. Wie kann ich nur? Oder der Mensch darf nicht Gott spielen. Nein. Aber die Frage darf gestellt werden. Nein, die Frage muss gestellt werden. Kann ich selbst entscheiden, wann und wie ich sterben möchte? Es geht nicht darum, die Frage aus einer Laune heraus zu beantworten, sondern im konkreten Fall.
Ein 93-jähriger Mann, der seit Monaten schwächer wird und durch einen Sturz ins Spital gebracht wurde, erfährt durch einen mehrtägigen Untersuchungsmarathon, dass er Darmkrebs im fortgeschrittenen Stadium hat. In seinem Alter lehnt er eine Operation ab. Vor der Ablehnung fragte er seine Familie. Obwohl alle wussten, dass es den Tod bedeutete, stimmten sie zu. Die Ärzte schilderten ihm den Weg bis zum Erbrechen und schließlich dem Ersticken am eigenen Kot. Auf Nachfrage, ob es eine Form von Sterbehilfe gibt, bekam er bis zum Schluss keine Antwort.
Warum bekam er die Antwort nicht? Es gibt ein Gesetz, das Sterbeverfügungsgesetz. Seit 2022 kann unter bestimmten Voraussetzungen, wie eine unheilbare Krankheit, assistierter Suizid begangen werden. Es wäre sein Recht als mündiger Bürger gewesen. Seine Pflichten, wie die Sozialabgaben und Steuern zu bezahlen, hat er bis zu seinem letzten Tag erfüllt.
Sie meinen, das war ein Arzt, der es vergessen hatte zu erwähnen bzw. der die Sterbehilfe nicht wollte. Der Grund hierfür spielt keine Rolle. Für mich ist es eine grobe Pflichtverletzung. Aber lassen wir das. Nehmen wir an, der Arzt hätte den älteren Mann aufgeklärt. Hätte ihn seine Familie auch bei dieser Entscheidung unterstützt, damit er ohne Schmerzen, dafür jetzt und nicht innerhalb der nächsten sechs Monate am Ersticken sterben würde.
Rechtlich benötigt er die Unterstützung nicht. Aber wie viele der älteren Menschen werden hier beeinflusst oder noch schlimmer bedrängt. Am schlimmsten sind jene Fälle, wo die Ärzte gleich empfehlen, dass ein Familienmitglied die Erwachsenenvertretung übernimmt. Am Krankenbett bekommt man die passende Visitenkarte vom Notar zugesteckt, der auch Spitalsbesuche macht. Bei diesen Gesprächen ist der ältere Mensch anwesend, das wird aber häufig (bewusst) vergessen. Der 93-Jährige hätte seine Selbstbestimmung aufgegeben.
Seine Familie hatte ihm diese Selbstbestimmung gelassen und sich auf seinen Wunsch hin selbst über den assistierten Suizid erkundigt. Zwei Gutachten von Ärzten, mehrere tausend Euro und ein freiwilliger Arzt sind notwendig. Ein Glück, dass er in Wien wohnte. Nicht in jedem Bundesland gibt es freiwillige Ärzte.
Warum ist er den Weg nicht gegangen? Zwei Gutachten, Wartezeit etc. kosten Zeit und die hatte er nicht, genauso wie viele andere unheilbar kranke Menschen. Sie sterben häufig qualvoll oder bekommen starke Schmerzmittel, dass sie am Ende nicht mehr rechtsfähig sind und der Weg des assistierten Suizids nicht mehr möglich ist. 2024 gab es in Österreich 112 assistierte Suizide. Der 93-jährige Mann hätte einer davon sein wollen. Dann wären es 113 gewesen.
Die Texte von Annemarie Rieger und Alexandra Schneider sind im Schreibworkshop “Der, die oder das Essay” mit Erika Kronabitter entstanden.