Chimäre – Sarah Kuratle
Eine Rezension von Tobias Thomas March
„Das Ende kenne ich nicht. Wir sind zu klein oder zu groß.“ (S. 155). Im Buch “Chimäre” von Sarah Kuratle folgen wir den zwei Erzähler:innen Alice und Gregor auf ihren jeweils unterschiedlichen Reisen. Im Zentrum des Buches steht eine Insel, die Insel der Erforschung und des Kollegs. Auf dieser Insel werden Blumen und Samen, Bäume und Sträucher, Erdentiere und Vögel gezüchtet, gezeichnet und die Samen in Gläsern aufbewahrt. In einer ausbeuterischen Welt ist zu viel Salz in den Flüssen, sodass Fische sterben. Über die Rosenfelder ist zu viel Färbemittel gesprüht worden, damit man den ständig wechselnden Wünschen der konsumierenden und kaufenden Bewohner:innen der Stadt mit blauen, roten, orangen, schwarzen und roten Rosen nachkommen kann. Die Insel ist der einzige Ort des Wissens in dieser dystopischen Welt, wo erkannt wurde, dass alles ineinander fließt. Junge Männer werden ausgebildet und lernen die Pflanzen in all ihren Einzelheiten, Gerüchen, Farben und ihren Einzigartigkeiten zu zeichnen. Für Frauen ist auf der Insel jedoch kein Platz. Gregors bester Freund Alois, der in Wahrheit Alice ist, muss nach der ersten Blutung gehen und Gregor trauert seinem besten Freund nach. Da war mehr als ein Kuss vor dem Kleiderschrank, und Gregor weiß nicht, ob sein Leben wieder so sein werden kann wie früher. Er betreut die hängenden Gärten und vermisst Alois.
Alice entdeckt sich selbst, ihre Grenzen, was ihr gefällt, abseits des Kollegs. Der Fluss ist ihr ständiger Begleiter und ihre Reiserute. Auf dem Weg lernt sie Mira, Max, den ehemaligen Direktor des Kollegs, eine Wissenschaftlerin und ihre Mutter, eine Lehrerin namens Louise, kennen.
Gregor trägt ein Trauma aus seiner Kindheit und Jugend noch mit sich. „Wie der Ameisenhaufen, beim Warten auf Nächte, Schnee, verfällt Gregor in Starre. Bis er zittert wie als Kind, trotz der Kleidung nackt. Die Männer waren groß und schwer. Im Hals, in der Brust stockt seine Stimme, sein Atem. Er schließt die Augen.“ (S. 142). Freunde seiner Mutter und später Professor Xander aus dem Kolleg missbrauchten den Buben. Wird ihm Tera, eine neue Frau im Kolleg, helfen können, dieses Trauma zu bewältigen?
Kuratle erschafft in ihrem Roman eine Welt, wie sie ist: verwoben, ineinander fließend, übergehend, ohne Anfang und ohne Ende, mit Folgen für alle, mit Traumata, Fehlern und Traurigem. Aber auch Schönes, Buntes, Blühendes und Heilung finden darin Platz. Die Autorin arbeitet in jedem dritten Satz mit dem rhetorischen Stilmittel der Ellipsen, immer wieder werden wichtige Worte in ihren Sätzen ausgelassen, die sich die Leser:innen dazudenken sollen. Damit will sie eine ineinandergreifende Sprache, einen Schwebezustand erreichen. Dies gelingt ihr auch.
Tobias Thomas March, September 2025
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich.
Sarah Kuratle: Chimäre
Salzburg: Otto Müller Verlag 2025
160 Seiten
23 EUR
ISBN 978–3‑7013–1334‑1
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