Fretten – Helena Adler
Eine Rezension von Luis Stabauer
Die Geschichte einer Heranwachsenden und später jungen Frau schleicht sich durch den Roman. Und wie!
Die Kreationen und Wortschöpfungen packen die Lesenden beim Schopf und ziehen sie hinein. In einen Aufstand der Ich-Erzählerin, in ein Eintauchen in das Landleben, deren Familie und die Umgebung, sowie das Werden der jungen Mutter, die ihre Emotionen schonungslos an die Seiten in „FRETTEN“ nagelt. Die fehlende Liebe der Eltern begleitet sie im Leben und im Buch.
Dabei entwickelt sich die Handlung nebenbei, wird nicht explizit beschrieben, ist aber immer präsent. So entsteht Literatur!
Unzählige Sprüche aus den Mündern der Dorfbewohner:innen sind Material und Stilmittel für neue Kompositionen. Ein Roman, der schwer zu beschreiben ist, der gelesen werden muss, um die Verflechtungen vom Rhythmus der Sätze, von der Realität der Figuren und der Schönheit der Sprache aufzunehmen. Drei Aussagen seien hier als Beispiele angeführt:
„Und ich? Ich befinde mich mittendrin und bin nichts weiter als die Berichterstatterin meiner Gegenwart. Das frische Blut in meinen Adern sei der rote Faden in meinen Geschichten und die Röte in eurem Gesicht.“
„Das Urvertrauen steckte einem in allen Knochen und mochten sie noch so morsch sein. ‚Eppan wird’s da oben auch noch geben‘, sagte die Urgroßmutter immer, sobald ich Zweifel an etwas hegte. ‚Eppan wird’s schon richten. Eppan schaut auf uns.‘ Eppan war weiß Gott was, aber all ihre Hoffnung und ihr Glaube steckte in diesem Wort.“
„Dort, inmitten dieser Landschaft … Sie passen nirgends hin und nirgends hinein, es ist ihnen zuwider, sich einzufügen und unterzuordnen. Sie fretten sich durchs Leben, rein um des Überlebens willen.“
Ich habe nie einen Roman gelesen, in dem es eine ähnliche Dichte an Wort- und Satzkreationen gibt, die nebenbei zu eigenen Assoziationen und Erinnerungen geleiten. Die Mutterschaft der Erzählerin, deren Entstehung, deren Schmerzen, deren Liebe und die Sicht der anderen darauf, sind heftig schön beschrieben.
Vieles erzeugt Bilder in mir, liest sich wie eine Bildbeschreibung. Womöglich liegen tatsächlich Bilder hinter den kreativen Worten von Helena Adler. Und, um doch noch eine kritische Anmerkung zu machen: Gegen Ende des Buches, mit der Krankheit, waren mir die Wortspiele um Nuancen zu viel, haben etwas an den Bildern gekratzt, die in mir entstanden sind.
Dennoch: In jedem Satz, in jedem verbogenen Spruch steckt Literatur. „FRETTEN“ reihe ich in mein kleines Regal der Lieblingsbücher ein.
Luis Stabauer, November 2022
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Helena Adler: Fretten
Jung und Jung: Salzburg 2022
192 Seiten
22 EUR
ISBN: 978–3990272718
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