Ich übergebe das Zeitalter. Gedichte. – István Kemény
Eine Rezension von Cornelia Stahl
Über den Weckruf der Lyrik
Gedichte sind mitunter vergleichbar mit Musik.
Den vorliegenden Lyrikband Ich übergebe das Zeitalter beginnt István Kemény, geboren 1961 in Budapest, mit der Ouvertüre „Weck den Schlafenden“ und appelliert darin zum wiederholten Aufwecken. Mit Recht! Verschwimmen doch in unserer Alltagsraserei präzise Wahrnehmungen, vermischen sich mit medial aufbereiteten News. Der Autor ermahnt zum genauen Hinschauen, fordert ein wiederholtes Überprüfen der eigenen (inneren) Bilder.
Mein Lieblingsgedicht aus vorliegendem Lyrikband, der vorwiegend aus Langgedichten besteht (und es gibt diese leuchtenden Unikate übrigens in jedem Band), trägt den scheinbar banalen Titel „Magie des Glücks“. Die lapidare Anfangszeile „Wir haben so viel über den Schnee geredet“ offenbart ein Konvolut an Assoziationen. Kemény brachte mich unweigerlich ins Schreiben. Über ewige Diskussionen, die täglich geführt werden und über Schnee (von gestern) führt uns Kemény himmelwärts, spannt den Bogen und schafft Verbindungslinien zwischen Mond und Magie.
Ich komme auf die Eingangshymne, die Ouvertüre „Weck den Schlafenden“ zurück: Die Gedichte des ungarischen Autors haben mich wachgerüttelt und meine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. In „Hypnotherapie“ wandert der Blick Keménys in die Vergangenheit, fokussiert zurückliegende Ereignisse und verweist auf unsere Wahrnehmung, die einem erodierenden Gedächtnis unterliegt. Anspielungen auf die Psychoanalyse sind der Versuch, mit gegenwärtig vorhandenen inneren Bildern Erlebtes zu rekonstruieren. Satirisch untergräbt der Autor Versuche, sich ernsthaft der eigenen Traurigkeit zu stellen.
Orsolya Kalász und Monika Rinck übersetzten Keménys Lyrik aus dem Ungarischen. Rinck versah das Werk mit einem wunderbaren Nachwort.
Cornelia Stahl, im August 2021
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
István Kemény: Ich übergebe das Zeitalter. Gedichte.
Hrsg. von Peter Holland. Übersetzt von Orsolya Kalász und Monika Rinck
Leipzig: Reinecke & Voß 2019
88 Seiten
12 Euro
ISBN 978–3‑942901–35‑2
Cornelia Stahl ist Sozialökonomin und Absolventin des Lehrgangs „Schreibpädagogik“. Sie ist Redakteurin bei Litges.