Im Heimweh ist ein blauer Saal – Herta Müller
Eine Rezension von Maria Aschenwald
Mit Schere und Papier schreiben? Bilder entstehen lassen für das Auge, aber auch im Kopf und in der Seele? Herta Müllers Collagen sind poetische Kunstwerke, die eintauchen lassen in eine Wörterbilderwelt. Wörter und Buchstaben, ausgeschnitten aus Zeitungen, Zeitschriften und Werbeprospekten, gesammelt, geordnet in Schubladen aufbewahrt, um dann auf Papier geklebt zu Gedichten zu werden – immer sorgfältig ausgewählt und mit kleinen ausgeschnittenen Bildern kombiniert.
Sie erzählen von Heimat und Heimweh, von Absurdem und allzu Menschlichem und von der Wirklichkeit, auch jener, die in der rumänischen Heimat erlebt wurde, sich manchmal nur in einem Wort zeigt und manchmal in ihrer ganzen Bedrückung und Bedrohung.
Spannend ist es, den Reim zu entdecken, der die Autorin leitet, der sich in der Collage, aber nicht in den Vordergrund drängen darf, sich einfügen muss in das Bild. „Er bestimmt Takt und Rhythmus, ….und er trägt den Klang. Er ist wie ein Wächter, aber er ist auch ein Schelm……Er ist völlig unberechenbar und verlangt von mir Sätze, von denen ich kurz davor noch nichts ahnte.“
Schön, wie Herta Müller zu Beginn des Buches erzählt, wie sie dazu gekommen ist, „mit gefundenen Wörtern zu schreiben“, und welches Verhältnis sie zu den Wörtern hat: „…jedes Wort ist ein anderer Gegenstand, vielleicht sogar ein Individuum.“ … „Es ist der intensivste Kontakt mit Sprache, weil man jedes Wort einzeln anfassen muss.“ Sie erwähnt auch, dass „die ganze Kleberei“ wohl mit ihrer früheren Zeit in Rumänien zu tun hat, wo es weder bunte Zeitungen noch die Freiheit des Worts gab. „Denn Wortbesitz im Überfluss ist das Gegenteil von früher, von Zensur.“
Die im Fischer Verlag erschienene Taschenbuchausgabe zeigt am Cover die titelgebende Collage auf dezentem grauen Hintergrund – so sind auch die weiteren Collagen im Inneren abgebildet.
Ein Buch zum Immer-wieder-in-die-Hand-Nehmen, um in den Bildern und Wörtern zu versinken und stets Neues zu entdecken – berührend, erheiternd, inspirierend und von großer poetischer Strahlkraft.
Herta Müller, geboren 1953 in Nitzkydorf/Rumänien studierte in Temeswar rumänische und deutsche Literatur. Nachdem sie ins Visier der Securitate geraten und Verhören, Hausdurchsuchungen und Verleumdungen ausgesetzt war, konnte sie 1987 nach Berlin ausreisen, wo sie seitdem lebt. Sie ist Literaturnobelpreisträgerin 2009 und wurde mit zahlreichen weiteren Preisen ausgezeichnet. „Im Heimweh ist ein blauer Saal“ ist nach „Vater telefoniert mit den Fliegen“ und „Die blassen Herren mit den Mokkatassen“ Herta Müllers dritter Band mit Gedicht-Collagen.
Maria Aschenwald, April 2022
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Herta Müller: Im Heimweh ist ein blauer Saal
Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 2021
128 Seiten
22 EUR
ISBN 978–3‑596–70208‑4