Perfekte Menschen – Andrea Grill
Eine Rezension von Britta Mühlbauer
Schauplatz von Andrea Grills dystopischem Roman ist ein spärlich bevölkertes Europa in nicht allzu ferner Zukunft. Das Wichtigste für die Menschen ist Sicherheit, vor allem die Sicherheit von Kindern. So werden z.B. Flüsse in den Untergrund verlegt, weil jemand ertrinken könnte. Konsequenzen, wie das Austrocknen ganzer Landstiche, werden verwundert registriert und hingenommen.
Was die auktoriale Stimme behauptet, ändert sich ständig, oft hat man den Eindruck, absichtlich irregeführt zu werden. Viele Informationen werden vorenthalten und erst preisgegeben, wenn das Verständnis der Situation es unbedingt erfordert.
Das entspricht genau dem (Un)Wissensstand der Figuren, insbesondere der kindlichen Hauptfigur Michael. Er wird mit acht Jahren von Bewaffneten entführt. Die Entführung von Knaben kommt im Dorf Mat, wo Michael mit seinen Eltern Helena und Milosh lebt, häufig vor, aber niemand unternimmt etwas dagegen. (Außer einmal – dieser Versuch endet tödlich.)
In der von Andrea Grill geschaffenen Welt übernimmt niemand Verantwortung. Niemand muss arbeiten. Die Technik befriedigt alle Bedürfnisse. Niemanden interessiert, zu welchen Bedingungen und mit welchem Ziel die allgegenwärtige, lebensbestimmende Technik zur Verfügung gestellt wird.
„Dass alle in Europa lebenden Menschen funktionierende Geräte hatten, gehörte zur technischen Grundversorgung. Zuerst bediente es dich, dann bedientest du es. So hatten alle Zugang zum Staat und der Staat alle unter Kontrolle. Wettbewerb war möglich und erwünscht, doch wer was tat und vor allem wer wie viel wofür ausgab, wurde registriert. Man nannte das Konstrukt Demokratie, denn jede und jeder Einzelne hatte schier unendliche Wahlmöglichkeiten – nur eine nicht: ohne Technik auszukommen.“ (S.37/38)
Die technischen Geräte haben kindliche Namen. Emookuucks sind 3D-Brillen. Sie können mit Fieelys gekoppelt werden, Mobiltelefonen, die auf jede Frage eine Antwort haben – ob sie stimmt, weiß man nie – und die sogar die Gedanken ihrer Besitzer:innen lesen können.
Michael wird von seinen Entführern in ein Camp gebracht, wo er mit 3D-Filmen und Serien zwangsunterhalten wird, damit er die Erinnerung an früher verliert. Willkürlich angeordnete Gewaltakte verhindern, dass die Buben im Camp einander vertrauen. Michaels Freunde sind unberechenbar und unzuverlässig.
Er hält die Erinnerung an seine Mutter Helena wach, eine Olympia-Schwimmerin, die ihn die Liebe zu Pflanzen und Flüssen lehrte und Briefe schrieb, obwohl alle anderen nur noch per Videobotschaft kommunizieren. Er schreibt seine Gedanken in einer selbst erfunden Schrift in den staubigen Boden – als Selbstvergewisserung und Erinnerungshilfe. Sein Ziel ist es, das Camp zu verlassen und die Eltern und die familiäre Geborgenheit wiederzufinden, die er als Kind erfahren hat.
Andrea Grill zeichnet das Bild einer verantwortungslosen, infantilisierten Gesellschaft, die an H. G. Wells‘ Eloi erinnert, und beunruhigende Parallelen zur Gegenwart aufweist.
Britta Mühlbauer, November 2024
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich.
Andrea Grill: Perfekte Menschen
Wien: Leykam 2024
192 Seiten
24,50 EUR
ISBN 978–3‑7011–8321‑0
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