POLYMORPHA – Tobias Thomas March
Eine Rezension von Cornelia Stahl
„Den Zuschreibungen entkommen“
Mit Begeisterung habe ich Charles Pepins „Kleine Philosophie der Begegnung“ (Hanser, 2023) gelesen. Der französische Schriftsteller schreibt von der verändernden Wirkung der Begegnung, die nicht mehr vom Standpunkt des Einen ausgeht, „sondern (…) von unserem wunderbaren Unterschied, vom Gesichtspunkt des Zwei“, der einen Dialog in Bewegung setzt.
Tobias Marchs Gedichtband „Polymorpha“ (übersetzt mit Vielfalt und Formenreichtum) fokussiert ebendiese Begegnung, jene mit sich selbst und einem Gegenüber. Der Vorarlberger Biologe und Schreibpädagoge March entlehnt seine Sujets aus der Tierwelt, lässt sie lebendig werden in seinen Versen und untergliedert diese in vier Zyklen mit folgenden Namen: Mammalia/Säugetiere, Reptilia/Reptilien, Mollusca/Mollusken und Amphibia/Amphibien.
Im Mittelpunkt stehen typische Verhaltensweisen und Aussehen der jeweiligen Gattungen. Doch weitaus mehr offenbaren die Gedichte: Sie bilden jene Analogien zwischen Mensch und Tier, die wir aus Fabeln kennen. Ein Beispiel zeigt das folgende Gedicht auf Seite 14:
REH
Capreolus capreolus
ziehe mich an Waldrandzonen
besiedle Lichtungen alleine
breite mich aus
gewöhne mich ein
markier mine grenze
Eine Besonderheit in den Gedichten ist die dialektale Verwendung der Sprache, die, kursiv gedruckt, Rückschlüsse erlaubt und dem lyrischen ICH zur Identifizierung dient, das sich jedoch in den übrigen Versen einer eindeutigen Zuschreibung entzieht.
Ausnahme bildet hier das Gedicht „ZEBRASCHNECKE“, auf Seite 38, in der ein namenloses Gegenüber mit einer Deutlichkeit und Intensität angebetet wird:
ZEBRASCHNECKE
zebrina detrita
du fragst nach den Lippen
(…)
ich rufe dich an, ich verehre dich,
wenn ma Kopf, nur halb
so viel Stolz
i verer di
In Marchs Gedichtband „Polymorpha“ spiegelt sich eine Vielfalt an menschlichen und tierischen Begegnungen, die Mehrfachdeutungen zulassen. Und um (Geschlechter) Identität geht es immer wieder. Die Verse laden dazu ein, ins Innere hineinzuhören und festgezurrte Lebensentwürfe sowie Rollen infrage zu stellen (und bisweilen aufzulösen).
Tobias March, geboren 2000 in Bregenz, studierte Deutsch und Biologie an der Universität Wien. Er unterrichtet kreatives Schreiben in Wien, Niederösterreich und Vorarlberg. 2025 gewann er den Vorarlberger Literaturpreis.
Das von Luka Ajkovic farbenprächtig gestaltete Cover unterstreicht die Vielfalt und Lebenslust, die March in seinem Lyrikband zum Leuchten und zum Klingen bringt.
Unbedingte Leseempfehlung!
Cornelia Stahl, Dezember 2025
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich.
Tobias Thomas March: Polymorpha. Gedichte.
Mit einem Nachwort von Petra Ganglbauer.
84 Seiten
Wien: Edition Fabrik Transit 2025
18 EURO
ISBN 978–3‑903267–90‑9
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