Schreiben in der Bibliothek
Gedanken von Martin Peichl
Öffentliche Bibliotheken sind laut dem amerikanischen Stadtsoziologen Ray Oldenburg sogenannte „third places“, das heißt neutrale Orte, die (im Idealfall) gut erreichbar und für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sind. Diese Eigenschaften machen Büchereien mitunter auch zu hervorragenden Schreiborten.
Dieser Blogbeitrag zeigt einige Möglichkeiten auf, die Bibliothek als Ressource und Inspirationsquelle für das eigene Schreiben zu nutzen, sowie als Ort für Schreibworkshops.
Die Bibliothek als Schreibort
„Ich habe mir das Paradies immer als eine Art Bibliothek vorgestellt.“ (Jorge Luis Borges)
Eine Bücherei ist ein Ort voller Schreibimpulse. Die Bücher in den Regalen laden dazu ein, sich auf eine Entdeckungsreise zu begeben und Texten und AutorInnen zu begegnen, denen man sonst vielleicht nicht über den Weg gelaufen wäre.
Die Schreibenden können sich darüber hinaus mittels Textcollagen mit anderen AutorInnen, Genres und Textsorten auseinandersetzen oder sich mittels Textreduktionen und ‑Übermalungen (Beispiele findet man unter anderem HIER) mit der Wortebene beschäftigen und im kreativen Umgang mit den Textbausteinen neue Texte generieren.
Ein Praxisbeispiel: Schreibwerkstatt mit Lehrlingen
Im September 2018 fand in Kooperation mit den Büchereien Wien ein Schreibworkshop für Lehrlinge der Berufsschule für Frisur, Maske und Perücke statt. Hier ein paar Einblicke in die konkrete Umsetzung:
1) Die Rahmenbedingungen:
Wir haben uns an zwei Donnerstagnachmittagen im September in der Hauptbücherei am Urban-Loritz-Platz getroffen und jeweils drei Stunden lang gemeinsam geschrieben. Die Lehrlinge waren zwischen 18 und 22 und hatten viele unterschiedliche Erstsprachen sowie ganz unterschiedliche Zugänge zum Thema „Schreiben“. Es waren sowohl VielschreiberInnen als auch komplette SchreibanfängerInnen dabei.
Zum Abschluss hatte Martina Adelsberger von den Büchereien Wien noch eine Lesung der Jugendbuchautorin Elisabeth Steinkellner organisiert, die aus ihrem neuesten Buch „Dieser wilde Ozean, den wir Leben nennen“ (Beltz 2018) gelesen und auch die Fragen der Gruppe zum Thema „Schreiben“ beantwortet hat.
2) Das Programm:
Tag 1: Freewriting; Schreiben zu einem Bilderbuch („Der einsamste Wal der Welt“); Schreiben zum Thema „Neuland“ mithilfe von Bildimpulsen aus Sean Tans „The Arrival“ (das Buch thematisiert mit einer eindringlichen Bildersprache das Thema „Migration“; Eindrücke gibt es HIER); kreatives Spiel mit Büchern: „Bring Your Own Book“ (eine Beschreibung des Spiels kann man HIER finden)
Tag 2: Auseinandersetzung mit dem Aufwachsen und Leben in der Stadt bzw. am Land; autobiographisches Schreiben (Text über die eigene Erstsprache und den Begriff „Heimat“); Textreduktionen bzw. ‑Übermalungen (Textgrundlage waren Auszüge aus Werken der österreichischen Gegenwartsliteratur nach 1945) und Bierdeckelgedichte (eine kleine Auswahl findet man HIER)
3) Das Fazit:
Ein schöner Nebeneffekt, wenn man Schreibworkshops in einer Bücherei anbietet ist, dass die TeilnehmerInnen das Medienangebot kennenlernen. Auf diesem Weg bauen sie eine Beziehung zum Arbeitsraum Bibliothek auf. Ebenso machen sie die Erfahrung, dass öffentliche Bibliotheken mehr sind als bloße Aufbewahrungsorte für Bücher, nämlich Orte der Begegnung und des Austauschs.
Schreiben in der Bibliothek – Settings und Möglichkeiten
Im Rahmen eines Schreibworkshops in der Bibliothek konnte bzw. kann also Folgendes vorgestellt und erprobt werden:
- Bibliothek als Ort der Begegnung und des Austauschs kennenlernen
- Bibliothek als Arbeitsraum entdecken
- Medienangebot in der Bibliothek kennenlernen
- miteinander in der Bibliothek (und darüber hinaus) zu schreiben
- Schreibprozesse planen und reflektieren
- über Texte sprechen
- mit dem Schreiben einen Bezug zur ganz persönlichen Lebensrealität herstellen und diese widerspiegeln
- Schreiben als eine Form des Empowerments kennenlernen
- Schreiben als eine Bereicherung für den Alltag erfahren
Martin Peichl, November 2018
Fotos: Martin Peichl