Der Weg vor dem Fenster

Texte von Gabriela Fink

Der Weg

Ich gehe durch das Laby­rinth meines Lebens. Obwohl ich vorsichtig nach links schiele, schlage ich den Weg nach rechts ein. Rechts ist die männ­liche Seite, höre ich eine Stimme sagen und ich sehe meinen Vater, wie er mich an der Hand nimmt und ich willenlos neben ihm hertrotte in meinen roten Schuhen mit den Riem­chen, die bald drohen, zu reißen.
Dieser Weg ist der rich­tige, denke ich, die ich ein Kind bin und noch keine Ahnung vom Leben habe, deren maxi­males Aben­teuer Fahr­rad­stürze und geris­sene Schuh­riemen sind,
geschweige denn vom Sterben, das ich nur vom Hören­sagen kenne, mit dem ich noch nie in direkter Berüh­rung gekommen bin, das mich noch nie betroffen gemacht, mir noch keine Träne entlockt hat.
Mein Vater kennt das Leben, er hat von allem eine Ahnung, auch vom Sterben, selbst wenn er die Betrof­fen­heit, die es in ihm auslöst, niemals zeigen würde, begleitet er Ange­hö­rige mit ausdrucks­losem Gesicht auf den Friedhof. Mein Vater weiß alle Wege, er schlägt immer die rich­tige Rich­tung ein, ziel­strebig und selbst­si­cher stapft er auch jetzt über wuchernde Löwen­zahn­bü­schel, die sich keck durch den Kies gekämpft haben, steigt über Holz­stöcke, die sich hervor­ra­gend als Grill­spieße für das offene Feuer eignen würden, würde man sie nur ordent­lich zurecht­spitzen, zieht Kreis um Kreis in diesem Laby­rinth, das sein Leben ist, indem er Pflichten erle­digt, Aufgabe um Aufgabe abarbeitet,

er lässt sich den Schwindel, die die ständig vorkom­menden Kurven in ihm auslösen, nicht anmerken, scheinbar besonnen geht er seinen Weg, darauf erpicht, dass ich ihm folge und ja Fußstapfe um Fußstapfe, die er vorgibt, einschlage,
aber ich, ich komme ab vom Weg, der Schwindel steigt auch mir zu Kopf, es zieht mich in die andere Rich­tung, fernab von ihm, fernab vom Ausgangs­punkt stehe ich da mit baumelnden Schul­tern und sehe meinen Vater immer kleiner und kleiner werden, immer zöger­li­cher werden seine Schritte, immer armse­liger seine Statur, immer schutz­loser seine Silhou­ette, bis er plötz­lich ganz verschwindet, verschluckt im Laby­rinth seiner eigenen Wege, sich auflöst im Nichts, und nicht mehr wieder­kehrt,
und ich, die ich zurück­bleibe und nun einen kleinen Schimmer bekommen habe vom Sterben, ich, die ich nun Vieles gehört und gesehen, Tränen gelacht und geweint habe, schlage nun den Weg nach links ein, zuerst zöger­lich, doch immer wage­mu­tiger wie mein Vater stapfe ich schließ­lich des Weges mit meinem geris­senen Schuh­riemen – und einer ganz leisen Ahnung im Gepäck.

***

vor meinem Fenster
verzerrte Umrisse
verschlun­gene Wolken
verlo­rene Träume

vor meinem Fenster
verhan­gene Himmel
verdrängte Ängste
verharm­loste Realität

vor meinem Fenster
verwin­kelte Synapsen
verschwun­dene Pläne
vergan­gene Begeisterung

vor meinem Fenster
verwor­rene Szena­rien
verhär­tete Meinungen
verknappte Ener­gien

vor meinem Fenster
verdorrte Quellen
verweinte Seelen
vertane Chancen

vor meinem Fenster
verkürzte Tage
verein­samtes Lachen
verherr­lichte Vergangenheit

vor meinem Fenster
verges­sene Dialoge
verstummte Münder
vernarrte Fanta­sien

vor meinem Fenster
versun­kene Gedanken
verstor­bene Ideen
verlas­senes Selbst

vor meinem Fenster
versuchtes Aufbäumen
vertiefte Klänge
verän­derte Eindrücke

vor meinem Fenster
verträumte Nebel­schwaden
versöhnte Antlitze
versorgte Gesell­schaft

vor meinem Fenster
verduns­tete Melan­cholie
versam­meltes Licht
vereinte Kraft

 

Die Texte sind im Sommer­work­shop „Schreiben an der Quelle“ mit Cornelia Stahl entstanden.