Episch! 1
Ein Text von Hubertus September
Wien
„Du hast ja Humor!“
„Mmh.“ Jeschua versteht nicht
„Bist also einfach dem Schatten nach.“
„Mmh“, er versteht noch immer wenig von dem, was der fremde Mann im Kamelhaar Mantel spricht.
Hinter ihnen liegt ein weiter Park. Buntes Herbstlaub und tatsächlich eine Menge Schatten.
Eine lange Stille. Jeschua schnauft ziemlich durch die Nase, die tüchtig vor sich hinrotzt.
„Brauchst Du ein Sacktuch?“
„Wie bitte?“
„Zum Schneuzen!“
Jeschua versteht leider wieder nur wenig. Ein Tuch? Geht es schon wieder um dieses vermaledeite Schweißtuch von damals…
„Dieses Tuch hat es nie gegeben, das haben die Reliquienhändler erfunden und dann zu tausenden hergestellt: ein einfaches Stück Leinen, irgendein x‑beliebiges Gesicht draufgedrückt, ein bisschen Schwarz Tee drüber fertig.“
Der fremde Mann schaute ihn mitfühlend an.
„Du hast einiges hinter Dir, was?“
„Na, ja.“ Jeschua nickt unsicher. Seine Nase läuft, er wischt sich den Rotz an seinem Kapuzenpulli ab.
Der freundliche Mann reicht ihm ein Papier Taschentuch.
„Jetzt nimm schon, ist doch kein Problem. Ich habe oft auch keine bei mir und muss fragen.“
„Danke, mein Herr.“
„Aber das ist doch kein Ding. Wir müssen zusammenhalten.“
Wie meint der Mann das? „Wir“? Ist er auch aus dem Heiligen Land? Ist er auch vor der Sonne geflohen in diese schattige Stadt?
Wieder Stille zwischen den beiden. Zwei Sperlinge zanken sich um eine Stückchen Gebäck vor der Parkbank. Jemand hat wohl am Abend seine Semmel achtlos weggeworfen. Ein Festmahl für die Vögel. Eifriges Picken und fröhliches Zwitschern.
„Du hast sicher Fieber.“
Der Kamelhaar Mann setzt sich nun hin und legt behutsam seine Hand auf Jeschuas Knie.
„Oder hast Du etwas genommen?“
Jeschua versteht nicht. Er ist noch immer müde. Der ganze Körper tut ihm weh. Er versucht sich ein bisschen zu strecken.
„Mein Gott, wie sehen denn Deine Füße aus?“
„Schmutzig, was?“
„Entzündet würde ich sagen. Das muss doch höllisch weh tun! Das muss sich dringend ein Arzt ansehen. Für mich sieht das nach einer schweren Sepsis aus!“
„Ich wollte eh zum Arzt. Ich bin auf dem Weg zu Frau Doktor Freud.“
„Notfallambulanz?“
Jeschua nickt vorsichtig
„Genau. Sie ist die Enkelin von Sigmund Freud und arbeitet nach Freud.“
Jeschuas schöne Lippen zeigen ein unmerkliches Lächeln: „Logischerweise.“
Völlig unvermittelt springt sein neuer Freund wieder von der Parkbank auf und wird jetzt richtig laut: „He Mann! Wach auf! Du bist in Lebensgefahr!“
„Ich bin immer in Lebensgefahr! Wir alle übrigens.“
„He?“
„Wir sind alle in Lebensgefahr!“
Jeschua wird nun grob am Arm gepackt und von der Parkbank weggezerrt. Warum wird dieser Mann plötzlich so heftig? Hat sein kleiner Scherz ihn so böse gemacht? Hält er vielleicht nichts von Frau Doktor Freud? Ein Jungianer vielleicht? Das wäre schon wirklich ein dummer Zufall…
„Mann, Du musst so schnell wie möglich ins AKH. Die haben immer offen. Die werden Deine Wunden versorgen, Dir sofort etwas spritzen. Du hast sicher schon das Gift im ganzen Körper!“
Jeschua versucht, sich gegen das Gezerre zu stemmen, aber der fremde Mann im Kamelhaar Mantel ist einen halben Kopf größer als er und er sehr kräftig. Es hat keinen Zweck. Der Fremde zerrt ihn einfach mit sich mit wie ein kleines bockiges Kind. Als sie den Ausgang des wunderschönen Parks erreichen (erst jetzt bemerkt der Schmerzensmann wie schön dieser Park mitten in der Stadt gewesen war. Diese Blätter, in allen Farben, bunt wie ein Mosaik, so etwas hat er noch nie gesehen…), drückt ihn sein neuer Bekannter auf ein kleines Mäuerchen, hält ihn mit seiner haarigen Hand fest an der Schulter und kramt mit der anderen in der riesigen Tasche seines Mantels. Er zieht so eine Art Marmeladenglas heraus, schraubt es auf und fängt an, mit den Fingern darin herumzuschmieren.
„Ah, das kenn ich. Das ist Honig!“ freut sich Jeschua
Der Mann nimmt den Honig und schmiert ihn auf Jeschuas wunde Füße. Er kniet vor ihm nieder und behandelt jede einzelne eitrige Wunde mit seinem Honig. Zum Schluss betupft er sogar liebevoll seine Fußsohlen. Sie scheinen beide den gleichen Gedanken zu haben, denn der Fremde sagt nun:
„Stimmt, jetzt wirst Du wohl am Boden festkleben. Ich werde Dich tragen müssen.“
Er lässt das Glas wieder in seiner Manteltasche verschwinden und ansatzlos schultert er den verdutzten Heiland wie einen Kartoffelsack.
„Bleib ganz locker, alles wird gut.“
Jeschua versucht so entspannt wie möglich auf der Schulter dieses starken fremden Mannes zu liegen. Er riecht nach Heuschrecken und orientalischen Gewürzen. Unter diesen überaus angenehmen Eindrücken verlässt unseren Schmerzensmann das Bewusstsein. Aber auch das kennt er schon zu Genüge. „Eight miles high“ klingt es in ihm noch wohlig nach und mit einem Lächeln auf den Lippen knipst dann schon jemand mal wieder das Licht der Welt aus.
Irgendwo wird er schon wieder aufwachen. In der Notaufnahme des AKH, den Golan Höhen oder der Praxis von Frau Doktor Freud.
Irgendwie war er nicht tot zu kriegen.
Der Text von Hubertus September ist im Workshop „Epik“ von Erika Kronabitter entstanden.