Märchen verdrehen
Texte von Martina Linortner und Annemarie Hönigsberger
Martina Linortner
Hänsel und Gretel in der großen Stadt
Vor nicht allzu langer Zeit stand in einer überfüllten U‑Bahn
eine kleine Familie. Schweigend starrten sie mal nach links,
mal nach rechts. Misstrauen umgab sie wie eine dunkle Wolke.
Hänsel und Gretel beobachteten ihre Eltern mit höchster
Wachsamkeit. Sie ahnten, was ihnen bevorstehen würde, schon
wieder. Diesmal hatten sie jedoch vorgesorgt. Gretel hatte
Mum und Dad einen GPS-Sender untergejubelt, um jeden ihrer
Schritte verfolgen zu können. Gemerkt hatten das die Oldies
wie erwartet nicht. Von Technik verstanden sie etwa so viel
wie von Kindererziehung, dafür waren sie umso boshafter.
Die Oldies möchten keine Kinder. Hänsel und Gretel waren das
Ergebnis von zwei sexuellen Unfällen gewesen. Seither waren
die Kinder ein lästiges Anhängsel, das die Alten lieber früher
als später loswerden wollten.
Die U‑Bahn-Stimme kündigte die nächste Haltestation an.
Hänsel und Gretel wechselten einen wissenden Blick. Es war
Zeit umzusteigen. Die kleine Familie stieg aus, doch Hänsel
und Gretel begannen zu trödeln. So entfernten sie sich ein
paar Schritte von den Eltern.
Am Bahnsteig stand eine alte Frau. Sie trug einen alten
Mantel, ein Kopftuch, so wie es früher die älteren Damen am
Land trugen, verschlissene Schuhe und eine große Tasche.
Gretel nickte ihr zu. Die Frau setzte sich in Bewegung und
stolperte hollywoodmäßig auf die Oldies zu, kollidierte und
alle drei lagen am Boden.
Die Passanten ignorierten das Getümmel auf dem Bahnsteig. Die
Oldies schimpften, die alte Dame entschuldigte sich. Hänsel
und Gretel standen etwas abseits hinter einer Säule und
beobachteten das Schauspiel.
Gekonnt griff die alte Dame in ihre Manteltasche und holte
eine Phiole hervor. Zu sehr waren die Oldies mit ihrem
Geschrei beschäftigt, sodass sie nicht bemerkten, dass sie
ihnen ein paar Tropfen des Inhalts ins Gesicht spritzte.
Die Oldies verstummten und lächelten die alte Dame an. Dad
sprach: „Es tut mir leid, Verehrteste, ihnen Umstände gemacht
zu haben. Es wäre uns eine Ehre, Ihre schwere Tasche zu
tragen. Sie sind doch nicht verletzt?“
„Mein Knie schmerzt sehr.“, krächzte die alte Dame mit
verzerrtem Gesicht.
„Wir begleiten Sie nach Hause.“ Mum nahm die Tasche der alten
Frau. „Das ist das Mindeste, was wir tun können.“
Die alte Dame lächelte den beiden dankbar zu. Gemeinsam
stiegen sie in die nächste U‑Bahn ein und machten sich auf,
in Richtung Stadtrand. Immer wieder träufelte die alte Dame
ein paar Tropfen der Flüssigkeit auf die Oldies.
Hänsel und Gretel blieben am Bahnsteig zurück. Sie
beobachteten das Bewegungsmuster der Oldies auf ihren
Smartphones. Sie lächelten zufrieden.
Zu Hause bei der alten Dame duftete es nach Lebkuchen. Mum
lief das Wasser im Munde zusammen. Auch Dad war jetzt richtig
hungrig. Die alte Dame schien die Gedanken der Oldies zu
lesen. „Darf ich ihnen etwas Lebkuchen anbieten? Wissen Sie, ich
bekomme mittlerweile so selten Besuch. All meine Freunde sind
bereits verstorben.“ Die alte Dame leckte sich die Lippen.
„Oh ja, das wäre uns eine Freude!“ Mum und Dad setzten sich
an den Tisch. Sie aßen und aßen und fielen schlussendlich in
einen tiefen Schlaf.
Die alte Dame heizte ein. Nachdem die Glut zu ihrer
Zufriedenheit glomm, packte sie einen nach dem anderen und
schob sie in ihren riesigen Ofen. Dann deckte sie den Tisch
erneut.
Ein Klingeln erschreckte die alte Dame. Sie öffnete die Türe.
Draußen standen Hänsel und Gretel und schauten die alte Dame
fragend an. Sie nickte nur. Im Haus duftete es nach Braten.
Dann ging sie zurück zum Tisch, nahm den Schlüsselbund und
die Geldbörsen der Oldies und überreichte sie den Kindern.
Dann sprach sie: „Ich freue mich, weitere Geschäfte mich euch
zu machen.“ Hänsel und Gretel nickten.
Und wenn sie nicht überführt wurden, morden sie still und
eimlich weiter.
Annemarie Hönigsberger
Hänsel und Gretel
„Hänsel, Gretel“, ruft Anna, „geht doch in den Supermarkt und holt mir Eier, Mehl und
Milch für Palatschinken …die liebt euer Vater doch so!“
Die Stimme der Stiefmutter klingt laut und krächzend.
Hänsel, der eigentlich Lorenz heißt, verdreht die Augen. „Kann sie nicht endlich damit
aufhören?“, murmelt er angewidert seiner Schwester zu, „nach drei Jahren könnte sie
doch schon wissen, dass ich Lorenz heiße …doofe Kuh.“
„Mach dir nichts draus“, erwidert Gretel. Ihr gefällt das.
Gretel, die Gerda heißt, liebt Märchen. Sie ist vier Jahr jünger als Lorenz und ist vor
kurzem in die erste Klasse Volksschule gekommen.
„Endlich auch Schule“, hat sie gemeint, „jetzt kann ich bald so gut lesen wie Lorenz.“
Und das ist nun wirklich nicht schwer, denn Lorenz hat große Schwierigkeiten mit
Buchstaben. Ständig verwechselt er sie. Und zwar so, dass Worte gar keinen Sinn
mehr ergeben …aber ein großer Bruder ist eben ein großer Bruder! Und große
Brüder sind toll!
Gerda konnte die Buchstaben schon im Kindergarten.
„Gehen wir!“, sagt sie und stellt sich energisch vor Lorenz, „Eier, Mehl und Milch.“
„Papi hasst Palatschinken. Hat das die Ente noch nicht gemerkt?“, murmelt Lorenz,
„aber Enten denken nicht.“
Lorenz bezeichnet seine Stiefmutter immer nur als „die Ente“. Das liegt womöglich an
ihrer Art zu Gehen …
„Nenn sie nicht so“, sagt Gerda, „ich mag Anna, sie bemüht sich.“
„Schwachsinn, …die Ente hat böse Augen …böse Augen und einen bösen Blick!“
(…)
Und keiner wusste, dass wir acht waren (Das Tapfere Schneiderlein)
Er, klein und zierlich, wie er ist, hat es einfach auf seinen Gürtel gestickt und dann die
Prinzessin geheiratet!
Tapfer will er sein? Mutig?
Nein …frech und böse ist er! Ja, du hast richtig gehört …böse. Schließlich hat er
meine Familie zur Gänze ausgelöscht. Ich war der Kleinste und konnte mich nur
durch ein ausgeschlagenes Astloch in der Tischplatte in Sicherheit bringen …alles
habe ich gesehen …alles! Auch das mit der Fliegenklappe. Einfach so, ohne mit der
Wimper zu zucken, ist er auf meine Familie losgegangen.
Aber ich habe ihn verfolgt. Den ganzen langen Weg bis hierher zum Schloss.
Unter seinem Hemdkragen war ich versteckt und habe alles mitgeschrieben, ich die
achte Fliege! Denn ich werde Journalist und das hier ist meine Geschichte. Eine
wahre Geschichte, die alle wissen sollen, alle …auch der König und die Prinzessin.
Und dann bin ich Held und die Prinzessin wird mein!
Das Schneiderlein wird verbannt und ich werde Herr der Fliegen genannt!
Die Texte von Martina Linortner und Annemarie Hönigsberger sind im Rahmen des ONLINE-Schreibworkshops “Märchen verdrehen” mit Katja Renzler entstanden.