Märchenverdrehen 2
Texte von Birgit Murbacher-Sanna
Frau Holle
Goldmarie hat endgültig genug von ihrer Rolle, den Zuschreibungen, die sie sich selbst nicht ausgesucht hatte. „Die Fleißige“, immer bereit, jede Arbeit zu übernehmen, auch wenn sie noch so schwer ist. Und dafür die Anerkennung der Außenstehenden zu bekommen. „Die ist ja so fleißig“ … „und immer fröhlich und gut gelaunt verrichtet sie ihre Arbeit“…“Die hört jeden Hilfeschrei“… „Ja, auf die kann man sich verlassen, die lässt keinen im Stich“… die Äpfel aufsammeln, das Brot fertig backen und, und, und…. So müde hat sie die viele Verantwortung, die viele Arbeit gemacht. Das hat keiner gesehen. Aber sie spürt es, täglich mehr. Adieu Pflichtbewusstsein!! Good bye Fleiß und Selbstoptimierung! Werte, die im Übermaß gelebt völlig überschätzt sind. Vergnügen und Genuss, die zu Unrecht mit Faulheit in Verbindung gebrachten, diesen wollte sie ab heute den ersten Stellenrang einräumen. Waren lange genug im Schatten gestanden. Sie wohlig im Bett räkelnd genoss Goldmarie die Vorstellung der neuen Version ihrer selbst.
Und die Haare würde sie sich auch noch kurz schneiden.
Hänsel und Gretel 2.0
Hänsels Mutter hielt den Bescheid in der Hand. Er war die Bestätigung dafür, warum ihr Konto wieder einmal so ins Minus gerutscht war. Er hatte die Alimente nicht überwiesen. Sie war nicht verwundert. Seit 9/11 war alles anders. Er hatte nicht nur seinen Arbeitsplatz verloren; auch sein gesundheitlicher Zustand war durch die furchtbaren Erlebnisse massiv beeinträchtigt. Ein weiteres Trauma, das in sein Leben integriert werden musste.
Jetzt war wieder einmal mehr ihre Kreativität gefragt. Die Schulausbildung von Hänsel und Gretel verschlang Unsummen. Irgendwie musste sie zu Geld kommen. Sie saß am Küchentisch, ihr Blick aus dem Fenster ließ sie die veränderte Skyline von New York wahrnehmen, die Twin Towers waren nicht mehr da. Aber Neues war entstanden. Wie immer im Leben. Brüche, Umbrüche, ja selbst Katastrophen zerstörten Althergebrachtes und Gewohntes, ließen aber die immerwiederkehrende Kraft der Veränderung, des Neubeginns im Leben zu. Gut, auf die Alimente konnte sie nicht mehr zählen. Ein neuer Plan musste her. Auf der Küchenkredenz stand die mit blauen Blümchen gemusterte Teedose ihrer betagten Tante, die neben dem Central Parks, der grünen Lunge Manhattans, lebte. Zwischen all‘ den Hochhäusern hatte sie sich ihr kleines Einfamilienhaus bewahren können. Wie, das war nicht ganz klar, man sprach von einem durch Erbschaften angehäuften Vermögen, auf dem sie „saß“, und von dem auch niemand in der Verwandtschaft bisher etwas abbekommen hatte. Sehr sympathisch war ihr die Frau nie gewesen, aber ein Versuch war es wert. Sie würde mit ihr Kontakt aufnehmen und Hänsel und Gretel auf einen Besuch vorbeischicken. Die Tante hatte die Kinder die letzten Jahre nicht zu Gesicht bekommen, der einzige Kontakt waren die Grußbotschaften zu den Geburtstagen, zu Weihnachten, die höflicherweise von beiden Seiten ausgetauscht wurden. Auf längere Erklärungen, um den Besuch der beiden anzukündigen, hatte sie keine Lust, die Zeit bzw. die finanzielle Not drängte. Sie nahm ihr handy, wählte die Nummer der Tante und war überrascht, dass diese sich nach nur zweimaligen Läuten mit freundlicher Stimme meldete. Kurzer small talk, Austausch von Alltäglichen überbrückte die ersten Minuten der Konversation, und dann rückte sie mit ihrem Plan heraus, die Kinder zu einem Besuch zu ihr schicken zu wollen….
Die Texte von Birgit Murbacher-Sanna sind in Katja Renzlers Schreibworkshop „Märchenverdrehen“ entstanden.