Märchenverdrehen 1
Texte von Marion Hofer
Hänsel und Gretel 2.0
Mutter liegt mal wieder im Koma. “Seit wann liegt sie so da”, will Erna wissen. “Woher soll ich das wissen!” Bert ist genervt. “Ich hab’ Hunger!” Er starrt in den Kühlschrank. Dosenbier, ein schimmliger Käse, .… “Pfui Teufel. Sind noch Ravioli im Keller?”
“Ich glaub nicht.” Erna schlüpft in ihre Bomberjacke. “Komm’ ich geb’ Pommes bei Mc Donald aus”, ruft sie ihren Bruder und öffnet die Haustüre. “Woher hast du das Geld”, will Bert wissen. “Geht dich nichts an. Kommst du jetzt mit?“
Die beiden sind noch nicht aus der Tür, stolpert der Vater die Stiege hoch. “Auch besoffen”, flüstert Bert und zieht seine Schwester ins nächste Stockwerk hoch. “Pssst, wir verstecken uns.”
“Ich hab’s so satt, ich könnt kotzen, wenn ich ihn sehe!” Erna tut als würde sie sich den Finger in den Hals stecken. “Sei still”, zischt ihr Bruder. “Oder willst du uns verraten?“
Endlich ist die Luft rein. Erna und Bert schleichen die Stiege hinunter. Der Lift ist wie immer kaputt. Durch die Wohnungstür hören die Teenager ihren Vater schreien. “Lass uns abhauen!”, zischt Bert. “Schnell“
Draußen regnet es. Bert dreht das Schild seiner Kappe vor, damit sein Gesicht trocken bleibt.
“Sauwetter”, flucht er und tuschtet gegen einen Ball, der im Eingangsbereich herumliegt.
Die Familie wohnt erst seit wenigen Tagen in Berlin. Trotz des Umzuges ist für die Geschwister nichts neu. Plattenbau bleibt Plattenbau. Es stinkt nach Urin und Erbrochenem. Graffiti zieren den verwaschenen Beton.
“Rechts oder links”, fragt Erna. “Keine Ahnung”, raunzt Bert. “Dann links, vielleicht schaut der Alte aus dem Fenster. Wer weiß.“
Erna und Bert marschieren los. Der Weg führt durch den Park. Vorbei an den Obdachlosen, die in einer dunkeln Ecke neben dem Spielplatz ihr Lager aufgeschlagen haben. Die Schatten der Bäume nehmen den bunten Zelten ihre Leuchtkraft. Irgendwie dem Elend angepasst. Von Hoffnungslosigkeit vermüllt.
“He, hon dar an Tschick!” Erna erschrickt. Bert kramt eine zerbeulte Packung Marlboro hervor. “Lass es!” Erna zieht an seinem Jacken-Ärmel. “Komm, lass uns verschwinden.”
“Warum.” Bert reißt sich los. “Dem geht es auch nicht besser wie uns.”
“Oder schlechter!” Erna schaut den Mann an. “Der erinnert mich an Gollum. Nur mit Bart …”
Märchen Haiku
Den Blocksberg gesucht
300 Meter über dem Meeresspiegel
einfach übersehen!
Der Schuh auf der Stiege
die hübsche Frau verschwunden
macht nichts, bin barfuß!
Die Texte von Marion Hofer sind in Katja Renzlers Schreibworkshop „Märchenverdrehen“ entstanden.