Schin­na­gl­gasse

Ein Text von Karin Dobler-Kreibich

Die Stein­treppe in der Schin­na­gl­gasse ist breit, breiter als im Haus in der Habi­cher­gasse, wo die Urlioma wohnt. Rechts der hölzerne Hand­lauf, alle 1,5 m befindet sich dort ein Knubbel. Die geome­trisch gemus­terten Fliesen im Halb­stock sind sauber gewischt, ein flüch­tiger Kern­sei­fen­ge­ruch hängt im Gang, der Halb­stock heißt hier Mezzanin. Mit nur einer Wohnung, der „Haus­her­ren­woh­nung“. Dort gäbe es Bade­zimmer und WC indoor, Küche mit Speis, und drei große Zimmer mit Flügel­türen, so erzählt Tante Frieda.

Tante Friedas Wohnung ist im 1. Stock, gleich links der Treppe, neben dem Gangklo. Eine Zimmer- Küche-Wohnung. Sie wohnt dort alleine, seit der Onkel Nazi tot ist. Er hat Ignaz geheißen und Anfang der 70er Jahre finde ich es noch nicht eigen­artig, einen Nazi­onkel zu haben.

Es ist einge­heizt, ein wohl­tu­ender Kontrast zum kalten Gang. Der Koks­ofen steht hinten im Zimmer, in der Küche zündet Tante Frieda die Spiralen am Gasherd an, wenn sie mir ein Bad einlässt. Die Bade­wanne wird aus einem Küchen­kasten heraus­ge­klappt, dann händisch mit Warm­wasser befüllt, das sie zuvor in einem Omo-Häfen am Herd gewärmt hat. In diesen Genuss komme ich nur in den Ener­gie­fe­rien, im Winter, wenn es so kalt ist, dass sich die Fens­ter­scheiben im Zimmer, die zum Innenhof mit dem großen Kasta­ni­en­baum ausge­richtet sind, mit Eisblumen beschlagen. Der Kasta­ni­en­baum wirft näch­tens bedroh­liche Schatten, ich schlafe kopfabgewandt.

Nach dem Wannen­schaumbad darf ich, in ein großes, raues Hand­tuch einge­wi­ckelt, ein Stam­perl Eier­likör nippen und ein paar Biskotten essen. Ich tauche die Biskotten in das Stam­perl und zuzle die dicke Flüs­sig­keit dann aus dem Gebäck.

Im Zimmer, das Wohn­zimmer, Werk­statt und Schlaf­raum zugleich ist, steht an der Türseite ein Bett, daneben die alte Singer-Nähma­schine, an der Tante Frieda arbeitet. Sie kürzt Röcke und Hosen, näht Zipp­ver­schlüsse ein oder endelt ein Tisch­tuch ab. Der Koks­ofen glüht, in seiner Nähe ist die Wärme frei­lich am größten, ich habe die Füße Rich­tung Ofen gerichtet und schmö­kere in der Neuen Post, der Frei­zeit-Revue und dem Goldenen Blatt. Die Oranje-Prinzen gefallen mir, der älteste ist so alt wie ich, ich könnte ihn einmal heiraten und dann Königin der Nieder­lande werden. Der schaut auch gutmütig aus, ist nicht so ein Hallodri wie der Charles aus England, der schon wieder eine neue Freundin hat. Und der wär eh zu alt.

Unter dem Fenster mit den Eisblumen ist ein Kasterl einge­lassen, die Tante Frieda nennt es Fens­ter­kühl­schrank und hebt dort die Erdäpfel, Karotten, Eier und Weih­nachts­kekse auf. Die Keks­schach­teln sind aus Blech und wenn sie sie öffnet, wabert Vanil­le­duft durch den Raum. Ich bekomme ein paar Kipferl, der Staub­zu­cker fällt auf die Decke und die Bett­bank, ich befeuchte meinen Zeige­finger mit der Zunge und tupfe den Zucker auf.

Tante Frieda hört Radio, wenn sie mit den Füßen die Nähma­schine betä­tigt, also ist das Radio recht laut gedreht. Sie ist die einzige weit und breit, die Ö1 hört, ich komme aus einer Ö3-Familie, mir sind die klas­si­schen Töne fremd und ein wenig lang­weilig. Ich darf den Fern­seher aufdrehen und Akten­zei­chen XY unge­löst ansehen. Bei Tante Frieda darf ich so lange aufbleiben, wie die Sendung dauert; zuhause muss ich um 21 Uhr im Bett sein und Dallas geht immer 10 Minuten länger, da ist es furchtbar anstren­gend durch die geschlos­sene Kinder­zim­mertür die Dialoge zu belau­schen. Ich fürchte mich vor Eduard Zimmer­mann mindes­tens so viel wie vor den Männern, die Auto­stop­pe­rinnen ermorden, und genau jetzt muss ich aufs Klo. Also auf den kalten, dunklen Gang hinaus. Ich will auf keinen Nach­barn treffen, ich hoffe, es war vorher keiner am Klo, denn das ist fens­terlos und man riecht, wie lange der letzte Klogang eines Haus­be­woh­ners her ist. Tante Frieda begleitet mich, macht Licht, wartet vor der Klotür und schnell bin ich wieder im Warmen. Morgen geht sie mit mir ins Hotel Sacher, hat sie mir verspro­chen, eine echte Sacher­torte essen und schauen, ob diese besser/anders schmeckt als jene, die sie bäckt.

Ich lege mich auf die Bett­bank, der Kasta­ni­en­baum ist hinter mir, ich schaue Rich­tung Küche, die Glastür zur Küche ist geschlossen, damit die Wärme im Raum bleibt. Tante Frieda liest noch ein wenig in ihrem Bett, ihre Nacht­tisch­lampe ist gedimmt, in mir sorgen Eier­likör, Prin­zes­sin­nen­träume und die Aussicht auf den Folgetag für ein wohliges Einschlaf­ge­fühl und mir fällt ein, ich habe gar nicht Zähne geputzt, aber egal. Mach ich morgen doppelt.

 

Der Text ist im Schreib­work­shop “Schrei­bend erin­nern – Auto­bio­gra­phi­sches Schreiben” mit Erika Kronabitter entstanden.