Der boshafte Blick
Texte von Elisabeth Bendl und Martina Linortner
Elisabeth Bendl
Fehler im System
Sehr geehrter Großvater, sehr geehrte Großmutter!
Zunächst möchte ich Ihnen für den Erhalt dieser in allen Basisfunktionen brauchbaren Mutter danken. Seit mittlerweile elf Jahren nutze ich sie nun schon und kann, bis auf vorübergehende Funktionseinschränkungen wie selbstständige Urlaubsreisen oder nächtliche Ausflüge, den vollumfänglichen Gebrauch nach Herstellerangabe bestätigen. Doch seit meinem Eintritt in die höhere Schule musste ich feststellen, dass bei meinem Modell die bei zahlreichen anderen Modellen vorhandene Zusatzfunktion „Elternteil eines Schulkindes ab zehn Jahren“ nur rudimentär vorhanden ist. Ich möchte Ihnen im Folgenden einige Beispiele nennen. Da ich mit anderen Nutzern des Typs „Mutter“ gut vernetzt bin, weiß ich, wie diese Funktionen fehlerfrei ausgenützt werden können. Sie brauchen also erst gar nicht versuchen, mit fadenscheinigen Ausreden auf mein Schreiben zu antworten!
Punkt 1: Die Jause. Schon am ersten Schultag musste ich bedauernswerter Weise feststellen, dass mein Modell nicht darauf programmiert ist, sowohl Wasserflasche als auch Jause in meine Schultasche zu packen. Eines davon fehlt in drei von vier Fällen. Nebenbei sei gesagt, dass in diesem Punkt das ebenfalls in meinem Besitz stehende Modell „Papa“ weitaus besser funktioniert. Bei den Modellen anderer Nutzer kommt hinzu, dass diese die Jausenboxen hochwertiger befüllen. Stichwort Nutellasemmel statt Frischkäsebrot!
Dieser Bereich wäre nicht so dramatisch, wenn nicht Punkt 2, der Teilbereich „Geldausgabe“ wenigstens in Grundzügen funktionieren würde. Deadline einhalten, um den Schulausflug zu bezahlen? Geld mitgeben für die Jause vom Buffet? Fehlanzeige! Termine werden einfach ignoriert, Fristen verstreichen kommentarlos. Versuche ich dann, das Modell auf die Fehler hinzuweisen, reagiert sie mit der immer gleichen Handlung: Sie greift zur Weinflasche und trinkt ein Achterl. Ja, Sie haben richtig gelesen!
Ein letzter Punkt, den ich auch in Hinblick auf die nächsten Schuljahre mit Sorge betrachte, ist die fehlende Initiative, mich per Auto zur Schule zu bringen. Besonders in diesem Punkt kommen viele Nutzerinnen und Nutzer desselben Typs in den Genuss der Zusatzfunktionen. Regen, Schneefall, Wind? Da hilft in meinem Fall weder klagen noch schreien, ich muss immer auf öffentliche Verkehrsmittel zurückzugreifen. Typ „Papa“ weist hier ähnliche Mängel auf, fällt jedoch nicht in Ihre Zuständigkeit.
Ich hoffe, Ihnen mit meinen Beispielen ein klares Bild von der Problematik vermittelt haben zu können. Wie ich aus vergangenen Schreiben an Sie mittlerweile weiß, konnten Sie schon mehrmals positiv in die Funktionen meines Modells eingreifen. Ich erinnere mich da an die Programmierung „Ja, wir fahren auf den Reiterhof“ und „Ja, natürlich können wir Kaninchen als Haustiere halten“. Ich bitte Sie also, mir auch bei diesem Problem weiterzuhelfen.
Mit besten Grüßen, Ihre Enkeltochter
Martina Linortner
Schreibvorschlag, Parodie
Gegrüßet seist du, Mensch,
mit all deinen Gaben,
wir sind mit dir.
Du bist geachtet
unter uns Menschen,
und geachtet ist die Frucht
deiner Gedanken, deines Tuns.
Heiliger Mensch, wir alle,
bitte sei du selbst
jetzt und in der Stunde
deines Todes.
Danke.
Die Texte sind im Schreibworkshop “Der boshafte Blick. Ironie – Parodie – Satire” mit Britta Mühlbauer entstanden.