Wie aus Gruppendynamik Literatur wird. Teil 1
Ein Text von Harald Jöllinger
„Du Papa, weißt eh, ich bin der Gruppenleiter bei den Vorbereitungen für die Jugendmesse in zwei Wochen.“
„Grad du bist zum Chef gewählt worden?“
„Nein, wir haben das ausgelost. Meine Gruppe macht den Schmuck und so.“
„Naja. Brauchst was?“
„Nein, ich hab da die Unterlagen durchgeschaut von deinem Soziologenkongress. Darf ich eh?“
„Na, sicher. Was steht denn da?“
„Wie sich so eine Gruppe bildet. Mit forming, storming, norming und performing. Das ist urinteressant. Wenn ich mich an das halte, kann gar nichts schiefgehen.“
„Das ist für euch glaub ich nicht so wichtig. Ihr kennt euch ja alle schon. Ihr versteht euch doch gut. Oder?“
„Na sicher, der Paul, der Tom, der Istvan und der Robbie.“
„Und die Mädels?“
„Die machen das Buffet. Nach der Jugendmesse gibt’s ein Buffet.“
„Na typisch.“
„Wir wollten das so. Jedenfalls, sag! Was soll da noch schiefgehen?“
„Du musst dir das so vorstellen wie ein Dreieck. An einem Eck steht ihr als Gruppe. Das ist das WIR.“
„Das ist das Wichtigste.“
„Nein, das ist nicht das Wichtigste. Genauso wichtig ist das ICH.“
„Du?“
„Nein. Das ICH. Das Individuum. Also du bist ein ICH, der Paul ist ein ICH und so weiter.“
„Na eh.“
„Das kommt auch zum diesem Dreieck. Die verschiedenen ICHs. Stell dir vor, du kriegst wieder deine Migräne. Oder der Robbie muss wieder dauernd niesen.“
„Heuschnupfen.“
„Das stört euch dann auch in der Gruppe. Im WIR. Da bringt das ganze forming und so weiter gar nichts.“
„Und das dritte Eck?“
„Da kommt das ES hin.“
„Das ist vom Freud. Da gibt’s das ICH, das ÜBER-ICH und …“
„Nein, das ist etwas anderes. In dem Fall ist das ES der Schmuck der Kirche.“
„Kapelle. Die Messe ist doch nur in der Kapelle.“
„Jedenfalls eure Aufgabe. Was ihr so malen müsst, oder basteln, oder was ihr sonst so macht. Da kann ja auch viel schiefgehen.“
„Warum so negativ?“
„Ich will dir nur sagen, dass nicht die Gruppe allein zählt. Es kann irgendwas beim ICH oder beim ES schiefgehen, dann ist die schöne Messe auch versemmelt.“
„Ja, und wenn die Welt untergeht …“
„Sehr gut. Globe. Schau, was ich da zeichne. Einen Kreis um das Dreieck. Globe, das ist das Rundumadum. Wie Globus. Globe. Verstehst?“
„Der Globus ist doch kugelförmig.“
„Jetzt, wie soll ich das denn zeichnen? Besserwisser! Also das ist die Umgebung, die Kirche.“
„Die Kapelle. Ja sicher, wenn die einstürzt …“
„Nein, aber wenn der Pfarrer wieder so betrunken ist wie letzte Woche …“
„Glaubst, dass der wieder …“
„Nein, aber kann ja sein. Oder wenn die Mädels das Buffet ganz grauslich machen, dass alle krank werden.“
„Geh, die sind doch …“
„Oder wenn sonst etwas in eurer Umgebung passiert, es passiert oft irgendwas, mit dem keiner gerechnet hat.“
„Pessimist. Ich glaub wenn ich mir Mühe geb, wenn wir uns alle Mühe geben in der Gruppe und wenn die Mädels sich Mühe geben mit dem Buffet und wenn der Pfarrer nicht wieder so viel trinkt … Dann wird das eine leiwande Messe. Unsere Messe.“
„Grau, treuer Freund, ist alle Theorie.“
„Und grün des Lebens goldner Baum. Kenn ich. Ist von Goethe.“
„Ja, stimmt. Gar so dumm bist du gar nicht.“
„Weißt was, Papa? Ich glaub wir schmücken bei der Messe alles in Grau.“
„Warum?“
„Das ist so schön theoretisch.“
Harald Jöllinger, geboren 1973 in Mödling, lebt in Maria Enzersdorf, schreibt Nonsens, schwarzhumorige Lyrik und Kurzprosa. Teilnehmer der Celler Schule 2007 und Gewinner des Irseer Pegasus 2013. Absolvent der Leondinger Akademie für Literatur 2016. Publikumspreis bei der Nacht der schlechten Texte in Villach 2016. Im Frühjahr 2019 erschien der Erzählband „Marillen und Sauerkraut“ bei Kremayr & Scheriau.
Harald Jöllinger ist Teilnehmer des Lehrgangs Schreibpädagogik 2018/ 2019