Die Stadt als Schreibraum
Ausgangspunkt und Inspiration für viele meiner Stadtprojekte (Stadtschreiben, (W)ORTE Fotonotizen, Workshop Urbane Textfelder) ist das Bild von „der Stadt als Text“ des französischen Autors, Literatur- und Kunsttheoretikers Michel Butor. In seinem Essay „Die Stadt als Text“ denkt er darüber nach, was eine Stadt ist, und kommt zur Antwort: die Stadt ist ein Text, aus dem er liest und über den er nachdenkt.
Die Stadt ist eine Collage, eine Montage aus unterschiedlichen Zeiten, Bedürfnissen, Funktionen, aus Geplantem, Geträumtem, aus allen Worten, die je gesprochen wurden.
Überall in der Stadt begegnet uns Geschriebenes, Hinweis- und Verbotsschilder, Denkmalinschriften, Straßennamen, Werbung, Logos und jede Menge unsichtbarer Text in Bibliotheken, Archiven, Verwaltungen.
Seine These lautet, dass nicht Texte dort entstehen wo viele Menschen sind, sondern das umgekehrt, sich die Menschen um die Texte gesammelt haben.
„Die Funktion der Stadt als Speicher von Texten ist so wichtig, dass man sich fragen kann, ob darin nicht ihre wichtigste Wurzel liegt. Archäologische Untersuchungen lehren uns, dass überall auf der Welt die ersten großen Städte zur gleichen Zeit entstanden sind wie die Schrift, welches auch immer deren Ausprägung war. Deshalb ist es vielleicht nicht so, dass sich ein Text an einem Ort angehäuft hat, weil sich viele Menschen dort befunden haben, sondern umgekehrt, weil sich Text gesammelt hat, lassen sich die Menschen dort nieder, um ihm gewissermaßen zu dienen.“
Es gibt den sichtbaren Text, und nur in Spuren erkennbaren Subtext. Schreiben in der Stadt ist eine Möglichkeit, das Textgewebe der Stadt wahrzunehmen, zu lesen, aufzulesen, zu sammeln, zu notieren, weiterzuschreiben. Schreiben in der Stadt bedeutet „aus dem Vollen zu schöpfen“.
Brigitta Höpler, August 2018