Vision für eine Tiefen­päd­agogik des Schreibens

Ein Text von Sarah Kollnig

Wie stelle ich mir die Zukunft der Schreib­päda­gogik vor? Welche Visionen bringe ich ein?

Für die Zukunft wünsche ich mir eine tief­ge­hende Pädagogik des Schrei­bens. Eine Tiefen­päd­agogik sozu­sagen, so wie es auch eine Tiefen­öko­logie gibt. In der Tiefen­öko­logie ist alles mitein­ander verbunden, Verän­de­rungen in einem Teil des ökolo­gi­schen Netz­werks haben Konse­quenzen in oft weit entfernten Knotenpunkten.

Eine Tiefen­päd­agogik ist vernetzt, ist Teil der Gesell­schaft, nimmt teil am poli­ti­schen Geschehen. Sie will nicht ablenken, sondern sanft aber fordernd zugehen auf die Punkte, an denen es weh tut. Sie lehrt nicht klini­sche Beob­ach­tung, sondern empa­thi­sche Teil­habe. Sie leidet mit an dem, was geschieht in der Welt.

Eine tief­ge­hende Schreib­päda­gogik in meinem Sinne, und sicher­lich auch im Sinne des BÖS, ist poli­tisch, kritisch, und zeigt sanft oder laut, je nach Gemüt, die Miss­stände in unserer Welt auf.

Meine Schreib­päda­gogik ist offen für alle, ob alt oder jung, in Öster­reich geboren oder nicht, ob laut oder leise. Das klingt so klischee­haft, aber in der Tat sind wir uns oft dessen nicht bewusst, wie privi­le­giert man sein muss, um sich über­haupt dem Schreiben widmen zu können. Hat denn eine Fabriks­ar­bei­terin nach einer Nacht­schicht Muße zum Schreiben? Ein junger Vater in Karenz? Eine Schwer­kranke? Ein Migrant, der noch gefangen zwischen den Welten ist?

Ich will mit meiner Schreib­päda­gogik dort anfangen, wo die Bemü­hungen der offi­zi­ellen Insti­tu­tionen, ob Schulen oder Minis­te­rien, aufhören. Ich will mit denen arbeiten, die es schwer haben in unserer Gesell­schaft. Will mit der Ermu­ti­gung zum Schreiben vielen verschie­denen Menschen eine Stimme geben. Oder besser gesagt: Sie werden ihre Stimme finden. Ja, sie müssen ihre Stimme finden, denn sie haben etwas so Wich­tiges beizu­tragen zu unserer Gesell­schaft: Die Erfah­rung des Anders-Seins. Sie sind Augen­zeugen der Bruta­lität unserer neoli­be­ralen Welt.

Und so will ich schreiben, mit Menschen, deren Mutter­sprache nicht Deutsch ist, mit Menschen, die krank oder in Reha­bi­li­tie­rung sind, mit jenen, denen es viel­leicht nie einfallen würde, dass sie etwas Wich­tiges zu sagen haben. Mein Anspruch dabei ist kein thera­peu­ti­scher – es geht mir viel­mehr um das gesell­schafts­po­li­ti­sche Aufrüt­teln, um das Gesehen- und Gehört-Werden. Ein gelun­genes Beispiel für eine solche poly­phone Bericht­erstat­tung ist für mich die „Boule­vard­zei­tung“ Augustin.

Die kana­di­sche Sängerin Tracy Chapman singt: „Über die Worte erhältst du Mitge­fühl.“ Wir leben in einer Welt, die sehr wort- und sprach­zen­triert ist. Daher kann ein sprach­li­cher Aufschrei zu einem gesell­schaft­li­chen Aufschrei führen. Es ist aller­dings auch schade, dass das nicht-Sprach­liche so gering­ge­schätzt wird.

Als Schreib­päd­agogin möchte ich auch zum Singen und Tanzen aufrufen, zur Körper­er­fah­rung, die über die Worte hinaus­geht. Schreiben macht mit dem gesamten Körper etwas. Es kann Wohl­ergehen, aber auch Leid und Schmerz hervor­rufen. Worte sind mehr als Tinte auf Papier – sie drücken tief­ge­hende Befind­lich­keiten aus und teilen diese mit anderen. In der Hoff­nung, dass sie auf Verständnis stoßen.

Was soll Schreib­päda­gogik also sein, in Zeiten globaler Krisen? In Zeiten gesell­schaft­li­cher Apathie? In Zeiten des Sieges­zuges der künst­li­chen Intelligenz?

Sie muss tiefer gehen als es künst­liche Intel­li­genz je könnte. Sie muss anschreiben gegen statis­tisch errech­nete „korrekte“ Antworten. Sie muss Filter­blasen zerplatzen lassen. Sie muss zeigen, dass die mensch­liche Krea­ti­vität und Indi­vi­dua­lität so viel mehr kann als Alexa oder Siri.

Schreib­päda­gogik kommt nicht um Gesell­schafts­kritik herum. Es geht darum, jene zu ermu­tigen, die am Rand der Gesell­schaft leben. Die die Auswir­kungen poli­ti­scher Maßnahmen konkret spüren. Sie sind es, die gehört werden müssen.

Schreib­päda­gogik ist ein Angebot gegen die Apathie. Sie rüttelt auf. Sie stellt Verbin­dungen zwischen den scheinbar Macht­losen her. Sie schreibt und singt und tanzt an gegen die Gleichgültigkeit.

So stelle ich mir Schreib­päda­gogik vor: Mutig, poli­tisch, mit Tief­gang, egal ob laut oder leise, ob perfekt oder mit Recht­schreib­feh­lern – sie lädt Menschen dazu ein, sich auszu­drü­cken und anzu­kämpfen gegen diese brutale Welt.

 

Dieser von der Autorin leicht gekürzte Text ist im Rahmen der schrift­li­chen Abschluss­ar­beit des Lehr­gangs “Schreib­päda­gogik” entstanden