Ein inspirierender Gegenentwurf zum nüchternen Alltag
Ein Interview mit Hildegard Kokarnig
Hildegard Kokarnig ist eine leidenschaftliche Lehrerin und hat während ihrer 40jährigen Tätigkeit viele Veränderungen beobachtet. Deshalb stellt sie dem Interview einleitende Gedanken voraus.
Ich möchte vorausschicken, dass ich sowohl den Lehrgang „Schreibpädagogik“ besuchte, als auch zertifiziert in Poesie- und Bibliotherapie im Integrativen Verfahren bin (kurz PT), eine agogisch/ kreativtherapeutische Methode, welche die Heilkraft der gestalteten Sprache und heilsamer Texte nützt und von Hilarion Petzold, Ilse Orth und Johanna Sieper begründet wurde. Persönlichkeitsbildung, Biographiearbeit, Förderung von Kreativität, Gesundheit und Lebenskompetenz sind Bestandteile dieser Methode.
Ich lernte sie durch einen Workshop beim BÖS-Lehrgang kennen. Nun verschränken sich beide Methoden in meiner Berufs- und literarischen Schreibpraxis und bieten mir einen sich ideal-ergänzenden reichen Erfahrungsschatz. Es fällt mir also schwer, mich bei diesem Interview nur auf den BÖS-Lehrgang zu beschränken.
Wo liegen aber die Unterschiede?
Die Ausbildung zur Schreibpädagogin nützt mir sehr in meinem Berufsfeld, aber gab mir auch wertvolle Anstöße für meine schriftstellerische Tätigkeit. Durch die PT wiederum erfuhr ich auf beiden Gebieten Dimensionen der Erweiterung und Vertiefung. Kreatives Schreiben und intermediales Gestalten während der PT-Weiterbildung setzten Prozesse in Gang, die seelische Integration und persönliches Wachstum förderten und unterstützten.
Aus dem Blickwinkel einer fast vierzigjährigen Erfahrung als Pädagogin, die melancholisch auf die Zeit vor der letzten Bildungsreform zurückblickt, als im Fach Deutsch der Kreativität und dem Literaturunterricht mehr Platz eingeräumt wurde, hat sich durch meine beiden zusätzlichen Qualifizierungen die Sicht auf die heutige Schullandschaft geschärft und mir gezeigt, dass junge PädagogInnen durch das rigide System deutlich belasteter sind. Berge bürokratischer Aufgaben abtragen müssen, anstatt einem lebendigen Bildungsauftrag nachzukommen. Jugendliche wiederum eignen sich nicht selten Wissen außerhalb der Schule an. In einer Entwicklungsphase, in der, aus neurobiologischer Sicht, ein Mensch besonders offen fürs Lernen ist. Viele SchülerInnen spüren, dass sie in der Schule wertvolle Zeit vertrödeln, weil Körper, Seele, Geist nicht umfassend genährt werden.
Wie kann Schule also funktionieren, wenn Lehrende und Lernende sich fühlen, wie Ameisen, die ein frisch geteertes Asphaltband überqueren?
Dass unabhängige, starke Menschen die Institution Schule verlassen, ist nur möglich, wenn ein Unterrichtssystem Lebendigkeit fördert, Raum für Innovatives und Kreatives bietet und nicht DAHINSIECHT.
Der BÖS-Lehrgang und meine Weiterbildung in PT zeigten mir, dass das Lehren und Lernen in Schulen sich wenigstens teilweise anders vollziehen könnte. Ich wünschte mir, dass Bildungsreformer sich an diesen beiden Methoden orientierten, in Lehrpläne aufnehmen würden.
BÖS: Welche Überlegungen haben dich dazu geführt, den Lehrgang “Schreibpädagogik” zu absolvieren?
Hildegard Kokarnig: Meine Unzufriedenheit mit dem Bildungssystem und der Wunsch, frei nach Wittgenstein, die eigene Sprache zu nähren, um die Grenzen meiner Welt zu erweitern. Auch das Bedürfnis und die Lust, mit Menschen zusammenzutreffen, die, wie ich, Freude am Schreiben und Lesen haben und für die Literatur in allen Aspekten ebenfalls ein zentraler Angelpunkt im Leben ist. Einen inspirierenden Gegenentwurf zum nüchternen Alltag zu leben, in einem Raum, in dem eigene Bilder geweckt werden, ich schreibend und in einer die Sinne anregenden Atmosphäre die Welt neu entdecken und Gedanken und Phantasien sprachlichen Ausdruck verleihen kann. Letztendlich auch die Erwartung, wertvolle Schreibimpulse zu bekommen, leiseste Sinneseindrücke zu schulen, praktische Schreiberfahrung zu sammeln, Methoden und Schreibtechniken kennenzulernen, den eigenen Stil und Ausdruck zu verbessern. Inspiration für die Tätigkeit als Autorin. Kurz und gut mein literarisches Schreiben und meine Arbeitspraxis bunter zu gestalten. Wochenenden an einem Ort zu verweilen, an dem, wie es in der PT heißt, Erlebnisfähigkeit, Wahrnehmung und Stärkung der Gestaltungskraft gefördert werden.
BÖS: Wie kannst du die gewonnenen Erkenntnisse in deiner beruflichen Praxis umsetzen?
Hildegard Kokarnig: Als Deutschprofessorin setzte ich mich schon vor meiner Weiterbildung mit kreativen Methoden auseinander. Seither knüpfe ich aber bei meinen Arbeitsprozessen stärker an Erkenntnisse aus dem BÖS-Lehrgang und an Gedanken und Werte der Integrativen Agogik an, was meinen Unterricht sehr bereichert.
Noch ein paar Bemerkungen zum Thema Schule vorweg.
Bemühte, aber schulferne Bürokrat- und TechnokratInnen erfanden vor einigen Jahren das Rad der Bildung neu. Resultat: Kompetenzorientierung, Bildungsstandards, Teaching für Testing dominieren seit der letzten Bildungs-UN-reform die Lehrpläne. Schulalltag in meinem Fach, und nicht nur da, bedeutet heutzutage: Worthülsen anstatt Inhalte, Standardisierungs- und Messbarkeitswahn, Textsortentraining anstatt Literaturunterricht und Raum für kreatives Schreiben. Keine Schule ohne kognitives Lernen, aber die Balance fehlt. Ressourcen von Lehrenden und Lernenden werden täglich verschwendet und in SchülerInnen und uns PädagoInnen flackert die Flamme der Begeisterung häufig nur matt. Scheitern des Bildungsauftrags, Scheitern der jungen Menschen an einem hohlen System! Scheitern führe aber zur Ausbildung von zerebralen Mustern des Versagens, zu resignativen Mentalisierungen statt zu positiven, lebensbejahenden Haltungen selbstwirksamer Zukunftsorientierung, die das Leben kreativ gestalten will, in denen das eigene Selbst Künstler und Kunstwerk zugleich werden kann, heißt es treffend bei Petzold/Orth. Sind wir Lehrende und Lernende auch durch das streng geschnürte Korsett eingeengt, erlebe ich doch, wie die Bandbreite kreativer Möglichkeiten mich trägt und mir Methoden zur Verfügung stehen, um ab und an wenigstens fancy diamonds im Unterricht auszustreuen.
Die Erkenntnisse aus den Methoden des BÖS Lehrgangs und der PT, das Bewusstsein, was Kreativarbeit in seiner Tragweite bedeutet, helfen mir, meinen SchülerInnen Freiraum und ein wenig Freude im grauen Schulalltag zu bieten, der UN-bildung etwas Lebendiges, frei Gestaltendes entgegensetzen. So erfahren die Jugendlichen, selbst wenn sie im Regelunterricht scheitern, im schöpferischen Gestalten Lob und Bestätigung. Beide Methoden unterstützen ein Bildungskonzept, das auf ganzheitlichem Denken aufgebaut ist und das gestaltende Prinzip als wertvolle Ressource ansieht. Bieten Gelegenheit, sich teilweise von einem Bildungsauftrag zu entfernen, in dem Jugendliche zu Automaten degradiert werden und ihre schulische Lebenswelt einer geistigen Wüstenei gleicht, während PädagogInnen ihre Anvertrauten mit überfrachteter Theorie und unkoordiniertem Leistungsdruck beschulen müssen, anstatt ihnen die Welt der Literatur zu öffnen, die Freude am kreativen Umgang mit Sprache zu vermitteln. Anregungen, um ihren Geist wach, geschmeidig und flexibel zu machen, ihr eigenständiges Denken zu fördern.
Der BÖS-Lehrgang bietet PädagogInnen eine bedeutende Qualifikation, um in SchülerInnen Interesse, Freude, Empathie an Sprache und sprachlichen Phänomenen zu wecken. Das Konzept der PT, seine Geisteshaltung und das Anwenden seiner erlebnis- und ressourcenaktivierenden Methoden hilft ebenso, Jugend in einer Form zu erziehen, die sie in ihrer Persönlichkeit fördert. Wenn besonders gestaltete Sprache, diese Wirkung auf die junge Menschen ausübt, ist es verwerflich, dass Kreativität als Bildungskonzept so wenig Platz in Lehrplänen hat.
BÖS:Woran erinnerst du dich am liebsten während der Ausbildung?
Hildegard Kokarnig: An den freundschaftlich-wertschätzenden Umgang zwischen ReferentInnen und Gruppe auf Augenhöhe, die gastfreundliche Atmosphäre, die inhaltlich ausnahmslos kompetenten, motivierten, didaktisch geschulten Vortragenden, die es regelmäßig schafften, Fähigkeiten und verborgene Qualitäten der unterschiedlichsten GruppenteilnehmerInnen zu wecken, zu fördern und in einer wohlwollenden, kompetenten Feedback- und Sharingkultur zu würdigen. Die engagierte Leitung unter Petra Ganglbauer. Das sich schreibend Begegnen. Die Fülle an Kokreativität.
An die vielfältigen Anregungen für praktische Arbeit in den unterschiedlichsten Berufsfeldern. Mein Selbstausdruck, meine Sprachfähigkeit, die Tatsache, mich intensiv als gestaltender Mensch zu erfahren, wurde gestärkt und konnte an die KollegInnen zurückgegeben werden. Der Lehrgang bot mir in einem freien Raum perspektivenreiche Sinn stiftende Methoden und eine Vielzahl wertvoller Schreibimpulse. Es gefiel mir, dass ich Fortschritte in diesem Setting reflektieren und mein literarisches Ich, mein Bewusstsein als Schreibende stärken konnte.
Für all das großen Dank, an Petra, an all die wunderbaren Lehrenden, Erika, Waltraud, Silvia, Christa … !
Hildegard Kokarnig hat 2013/2014 den Lehrgang „Schreibpädagogik“ absolviert.