Wenn ich schreibe, setze ich mich aus
Zum Feedback in Schreibgruppen – Gedanken von Hannah Sideris
Vor einiger Zeit habe ich an einem Schreibworkshop teilgenommen.
Den ersten Text – das Thema war „Kanal“ – schrieb ich im Garten des Palazzo Zenobio.
Wir hatten drei Stunden Zeit. Ich war inspiriert, die Zikaden zirpten in der Mittagshitze.
Wir fanden uns zur Feedbackrunde im Schatten von Rosensträuchern ein, die Teilnehmenden hatten ihre Texte für alle kopiert.
Ich las meinen Text vor und blickte dann erwartungsvoll in die Runde – 11 Teilnehmende, 1 Dozent.
Wenn ich schreibe, setze ich mich aus. Meinen Gedanken, meinen Erinnerungen, meiner Phantasie, der Schreibumgebung, es ist, als ob sich jede meiner Poren öffnet, alles strömt ein. Beim Vorlesen meines Textes – bis dahin ist vielleicht schon etwas Zeit vergangen – bin ich etwas abgegrenzter:
Ich weiß, mein Text befindet sich im Rohzustand.
Ich bin mir bewusst, dass mein Text verwirrend sein kann, unverständlich, mein Text könnte nicht gefallen. Dennoch, ich habe mir diesen Text abgerungen, ihn aus meinem innersten herausgeschält.
Durch das Lesen meines Textes in der Gruppe gebe ich meinen Text frei.
Er muss nun alleine bestehen. Ich bin gespannt wie die anderen Teilnehmenden reagieren.
Ich bin neugierig auf die Rückmeldungen. Ist der Text dicht, ist er lose? Ist er verständlich, ist er verstiegen? Was hören die anderen in meinem Text?
Still ist es. Papier raschelt. Ich bemerke, dass viele meinen Text noch einmal lesen.
Ich kann warten. Rechts von mir höre ich wie zwei Teilnehmende miteinander zu reden beginnen. Bald redet die halbe Runde miteinander. Der Dozent liest noch. Jemand sagt: „Das ist total unverständlich. Was soll das? Was hat das mit Kanal zu tun?“ „Was ist das für ein Wort: ´Bergmanns Rohr´“. Jemand sagt: „Damit kann man nichts anfangen. Wo steht da Kanal. Wo steht da ´Bergmanns Rohr´?“. Der Dozent liest immer noch.
Ich bin Schreibpädagogin. Ich weiß, was da gerade passiert. Ich bin nicht verletzt. Ich bin nicht mutlos. Ich sehe mir die Gesichter der Teilnehmenden an. Ratlosigkeit. Eine junge Frau geht eine Zigarette rauchen. Kopfschütteln. „Kanäle gibt es auch in Amsterdam.“ „Ich war letztes Jahr in Hamburg.“ „Ich wohne hier in der Nähe.“
Ich bin versucht, den Dozenten, den ich als Autor und Mensch kenne und schätze, aus seinem Lesen zu holen, ihn zur Seite zu nehmen. Ich tue es nicht, denn ich leite diese Gruppe nicht. Nach einer ¾ Stunde gehe ich Kaffee trinken.
Ich denke noch heute an die anderen Teilnehmenden, bei denen ähnliches passierte. Wie fühlt es sich an, wenn Texte nicht wahrgenommen wurden? Wenn man persönlich angegriffen wird? Ein Dozent, der das alles geschehen lässt? Werden die Teilnehmenden je wieder an einem Schreibworkshop teilnehmen? Werden sie überhaupt weiterschreiben?
Mein Anliegen ist es, dass es nicht mehr zu so einer Situation, wie ich sie erlebt habe, kommen kann.
Ziel einer umfassenden Lehre der Schreibpädagogik ist es, SchreibpädagogInnen auch in der Leitung von Feedbackrunden zu schulen.
In Feedbackrunden in Schreibgruppen sind immer 5 Aspekte zu beachten:
Der/die Feedback – Annehmende
Der/die Feedback – Gebende
Die Gruppenleitung
Die Gruppe
Der Text
Ich kann mich an den Prozess des Erlernens sehr gut erinnern: vom ersten Feedback-Annehmen und dem ersten Feedback-Geben bis hin zum Lehrgangsmodul V, in dem das erste Leiten einer Gruppe durch den Feedbackprozess geübt wird.
Das Durchleben des Feedback-Annehmens auf den eigenen Text hinterlässt meist einen starken, emotionalen Eindruck. Für Feedbackrunden in ihren Schreibworkshops brauchen SchreibpädagogInnen und LeiterInnen jeglicher Art von Schreibgruppen daher vor allem Übung. Das Arbeiten im geschützten Rahmen ist für mich von essentieller Bedeutung und damit der Weg zu einem für alle Teilnehmenden produktiven Feedback in Schreibgruppen.
Hannah Sideris, April 2019