Auf nach Graz. Zu Fuß durch 1170 Kilo­meter Stadt – Gerhard Melzer

Eine Rezen­sion von Brigitta Höpler

Eine Stadt enthält immer mehr, als jede einzelne Bewoh­nerin wissen kann, und eine groß­ar­tige Stadt lässt immer das Unbe­kannte und das Mögliche die Fantasie anregen“, schreibt die US-ameri­ka­ni­sche Akti­vistin, Essay­istin und Kultur­his­to­ri­kerin Rebecca Solnit.

Diesem „Mehr“ der Stadt Graz ist der Germa­nist und Autor Gerhard Melzer auf der Spur, in hunderten Strome­reien (Eigen­de­fi­ni­tion des Autors) zu Fuß durch 1170 km Stadt.

Stromern, streunen, das ist doch noch einmal etwas anderes als flanieren. Ganz in der Tradi­tion der Wiener Gruppe in den 1950er Jahren, wie Fried­rich Achleitner beschreibt: „wir haben rich­tige Zu-Fuß-Wien-Ausflüge gemacht. Immer an der Peri­pherie herum. Da entstand das Wien-Bild des gfäudn Wien“. Gfäud im Sinne von abseits der Normen, leicht abseitig, leicht surreal.

Im Buch „Auf nach Graz“ geht es also um das Gehen und das daraus Resul­tie­rende. Erste Ergeb­nisse dieser schritt­weisen Stadt­an­nä­he­rung waren ca. 20.000 Fotos und 450 Seiten Notizen.

Im vorlie­genden Buch hat Melzer eine klare Struktur gefunden, für all das Gesam­melte, Foto­gra­fierte, Aufge­lesen, Notierte. Die Strenge der Form soll die Eindrücke bändigen, inhalt­lich struk­tu­rieren und die Subjek­ti­vität der Wahr­neh­mung im Zaum halten. Entspre­chend der Anzahl der Grazer Bezirke versam­melt der Bild­teil je 17 Fotos unter 17 Stich­worten, während im Text­teil 17 Pros­ami­nia­turen die frag­men­ta­ri­schen, knappen Notate verdichten.

Für Gerhard Melzer, in Graz aufge­wachsen, dort lebend und arbei­tend, verbinden sich die began­genen Straßen und Gassen mit Erin­ne­rungs­wegen, mit Lebens­wegen. Topo­grafie und Biografie greifen inein­ander – das Selbst, das Leben, die Orte, das Schreiben stecken im grie­chi­schen Wort­ur­sprung dieser beiden Begriffe.

Auf nach Graz und auf zu mir, ein Unter­fangen im Doppel­schritt“, ange­deutet in Schat­ten­selbst­por­träts des foto­gra­fie­renden Autors, den einzelnen Kapi­teln voran­ge­stellt.
Vom ersten Weggehen, ein Sich-Entfernen von der vertrauten Umge­bung zu Hause, bis hin zum Hinter­grund­rau­schen der versehrten, been­deten Lebens­wege, die sich unter anderem in den Stol­per­steinen zeigen – Erin­ne­rungen an die ermor­deten, depor­tieren, vertrie­benen Opfer des Nationalsozialismus.

Der schön gestal­tete Band ist ein Raum für sich, wir bewegen uns durch die Farben und Ober­flä­chen der Stadt, vorbei an Eingängen und Einfahrten, folgen Einkaufs­wägen auf ihren Wegen durch die Stadt, sehen Still­leben, Wich­tel­welten, Schräges, lassen uns von Kontrasten über­ra­schen und von Verboten nicht stören.

Gehen, foto­gra­fieren, schreiben als Möglich­keiten der Welt­an­eig­nung.
In diesem Sinn werde ich das Buch auch als Inspi­ra­tion in meinen Work­shop „Wegbe­schrei­bungen – Gehen und Schreiben“ mitnehmen.

 

Brigitta Höpler, im Mai 2024

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Gerhard Melzer. Auf nach Graz. Zu Fuß durch 1170 km Stadt.
Wien: Sonder­zahl 2023
240 Seiten
33 EURO
ISBN 978–3‑85449–636‑6

 

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