Die Scham – Annie Ernaux
Eine Rezension von Barbara Rieger
Écrire la vie – das Leben schreiben – so der Ansatz der französischen Autorin Annie Ernaux. Ihre erfolgreichen autobiografischen Werke erscheinen nun zum Teil in neuer, zum Teil in erstmaliger Übersetzung von Sonja Finck im Suhrkamp Verlag. „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen”, so der erste Satz des Buches „Die Scham”, das auf Französisch bereits 1997 erschienen ist. Jahrzehnte nach dem Ereignis, das die damals zwölfjährige Annie im Jahr 1952 mitansehen musste, schrieb es die damals 56-Jahre alte Autorin erstmals auf und versucht es (dadurch) zu verstehen. Sie kommt zu dem Ergebnis: „Die Scham ist die letzte Wahrheit. Sie vereint das Mädchen von 52 mit der Frau, die dies gerade schreibt.” (S. 105)
Als „Ethnologin ihrer selbst“ unternimmt Ernaux den Versuch, diese Szene möglichst genau zu schildern, genauso wie das Milieu und die Zeit, in der sie sich abgespielt hat. So zeichnet sie die Topographie der Stadt Y. nach, beschreibt die Straßen ihrer Kindheit, das Haus, das Geschäft, die Kneipe der Eltern, den Ablauf der Woche, den idealen Ablauf des Lebens und vieles mehr, während sie gleichzeitig zwischen Klammern erläutert, warum sie beispielsweise die Stadt Yvetot in diesem Fall nicht beim Namen nennen kann. Sie rekonstruiert das Universum der katholischen Privatschule, die sie besuchte, schildert nicht nur die dort herrschenden Regeln, sondern auch den eigenen Wissensdurst, ihren Geltungshunger, den Wunsch nach Zugehörigkeit und das aufkeimende Interesse an Sexualität.
Die eingangs beschriebene Szene hat in der damals erlebten und später beschriebenen Welt keinen Platz, sie lässt sich weder verstehen noch erklären. Der Bruch in der bis dato streng geordneten Wirklichkeit führt dazu, dass die ansonsten erstklassige Schülerin bei einer Prüfung nur ein „Gut“ bekommt. Die Autorin verortet die traumatische Szene als Ausgangspunkt ihrer Scham: Sie schämt sich fortan für ihre Eltern, ihre Familie, die soziale Schicht, ihren Körper. Außerdem identifiziert sie die Szene als Antrieb ihres Schreibens: „… dass sie es ist, die mich zum Schreiben bringt, dass all meine Bücher auf ihr beruhen.” (S. 24)
Das Buch endet mit der Beschreibung einer Gruppenreise, auf die die Mutter Annie und den Vater im selben Jahr schickt. Die Reise verstärkt für die junge Annie den Bruch in der Wahrnehmung der Wirklichkeit und erzeugt den Impuls zu schreiben. „Ich habe schon immer Bücher schreiben wollen, über die ich anschließend unmöglich sprechen könnte, Bücher, die den Blick der anderen unerträglich machen” (S. 110), hält die Autorin fest. Diese Bücher zu lesen und dabei zu erfahren, woraus sich das Schreiben speisen kann, sei – besonders allen Schreibenden – wärmstens empfohlen. Der ethnografische Ansatz der Autorin und die Erläuterungen ihrer Poetologie sind dichte Beschreibungen in klarer Sprache. Ernauxs Aufzählung und Erläuterung der Kategorien beispielsweise, in die die Handlungen und Taten der Menschen und ihr Benehmen im Viertel eingeteilt werden, lesen sich spannend wie ein Krimi. Und der letzte Satz des Buches kommt genauso überraschend wie der erste.
Barbara Rieger, November 2020
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Annie Ernaux: Die Scham
Aus dem Französischen von Sonja Finck
Suhrkamp, 2020
EUR 18,50
ISBN: 978–3‑518–22517‑2