Gesang eines womög­lich ausge­stor­benen Wesens – Mari­anne Jungmaier

Eine Rezen­sion von Cornelia Stahl

Hommage an eine erodie­rende Landschaft

Sich achtsam in der Natur bewegen, sich respekt­voll ihr gegen­über zeigen und mit ihr eine wech­sel­sei­tige Bezie­hung eingehen. All diese Impli­ka­tionen spie­geln sich in den Gedichten der Linzer Autorin Mari­anne Jung­maier wider. Es sind zärt­liche Begeg­nungen der Zunei­gung zwischen dem lyri­schen Ich und der Natur. Bisweilen tauchen Analo­gien zwischen Mensch und Natur auf: Alte Bäume fungieren als Koor­di­naten und vermit­teln Gefühle von Ruhe, Sicher­heit und Behei­matet-Sein, wie im Gedicht „Koor­di­na­ten­system“:

alte Eichen sind die Punkte
in meinem Koor­di­na­ten­system
mein Zuhause

Gedanken vom Ankommen und Verwur­zelt-Sein, öffnen im Gedicht „Mutter­hasel“ Räume und entwerfen einen Fächer viel­schich­tiger Assoziationen:

im Früh­ling
zerstäubt der Wind
kleine Würste und Gedanken …
hier habe ich Raum
hier schmeckt der Tee süß
hier atmet es mich jeden Morgen beständig

Die Natur leuchtet in allen Jahres­zeiten auf, flim­mert durchs Blät­ter­werk. Bei Jung­maier wird sie zum Reso­nanz­raum, der Atem und Energie liefert und verbrauchte Reserven wieder zurück­gibt, aber auch Schatten wirft. Die Begeg­nungen zwischen lyri­schem Ich und der Natur sind es, die den Leser:innen eine Grund­stim­mung von wech­sel­sei­tigem Respekt, aber auch von Vergäng­lich­keit vermit­teln, wie das Gedicht „Land­schafts­or­na­ment“ illustriert:

diese Erde
ist ein Geschenk
aus der mutlosen Zeit
gewählt, besät und beschnitten …

Jung­maiers Sprache erzeugt eine Atmo­sphäre der Entschleu­ni­gung. Sie fordert ein Inne­halten ein sowie den acht­losen Umgang mit dem Geschenk Erde zu beenden.

Eine abso­lute Lese­emp­feh­lung, nicht nur für Lyrikfans!

 

Cornelia Stahl, September 2024

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfasser:innen verantwortlich.

 

Mari­anne Jung­maier: Gesang eines womög­lich ausge­stor­benen Wesens.
Mit Illus­tra­tionen von Ursula Kies­ling.
Salz­burg: Otto Müller Verlag, 2024
64 Seiten
24 EURO
ISBN 978–3‑7013–1316‑7

 

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