Und alle so still – Mareike Fallwickl

Eine Rezen­sion von Barbara Rieger

Zuerst schreibst du, wie es ist, und dann schreibst du, wie es sein kann,“ hat Gertraud Klemm laut Dank­sa­gung einmal zu Mareike Fall­wickl gemeint. Mit den Ist-Zuständen hat sich Fall­wickl in ihrem Best­seller „Die Wut, die bleibt“ (Rowohlt 2022) ausein­an­der­ge­setzt. Darin begeht eine Frau Selbst­mord und über­lässt ihre Kinder und deren Vater sich selbst, bzw. ihrer besten Freundin, die sich notge­drungen zu kümmern beginnt.
Um Care-Arbeit geht es auch in „Und alle so still“, außerdem um Sexismus und sexua­li­sierte Gewalt, um patri­ar­chale und kapi­ta­lis­ti­sche Ausbeu­tung, um weib­liche Soli­da­rität und um das Ertragen und letzt­lich das Über­winden uner­träg­li­cher Zustände.

Es ist die Einsam­keit, die die drei Haupt­fi­guren mitein­ander verbindet. Die von ihrer Mutter femi­nis­tisch erzo­gene Elin leidet als erfolg­reiche Influen­cerin genauso an ihrer Einsam­keit wie der von seinen Eltern voll­kommen vernach­läs­sigte Nuri, der von einem prekären Job zum nächsten hetzt. Auch die Kran­ken­pfle­gerin Ruth ist spätes­tens seit dem Tod ihres behin­derten Kindes einsam, viel­leicht ein Mitgrund, sich weit über ihre Belast­bar­keits­grenzen hinaus um Patient*innen zu kümmern. Doch es sind nicht nur die drei Haupt­fi­guren, aus deren Perspek­tive abwech­selnd erzählt wird, die ausge­beutet sind, sich leer fühlen und eigent­lich nicht mehr können. Die Erschöp­fung ist ein kollek­tiver Zustand, der vor allem, aber nicht ausschließ­lich Frauen betrifft.

Was passiert, wenn eine der Frauen, in diesem Fall Ruths Mutter und Elins Groß­mutter, die sich Zeit ihres Lebens ihrem Mann unter­ge­ordnet hat, nicht mehr mitspielt? Nicht mehr mitma­chen will oder nicht mehr kann? Wenn sie sich einfach vor einem Kran­ken­haus auf den Boden legt und liegen bleibt? Wenn sich andere Frauen zu ihr legen, weil es ihnen ganz ähnlich geht? Was passiert also, wenn wir aus der stän­digen Über­for­de­rung und Nicht­Wert­schät­zung heraus nicht alleine vom Balkon springen wie die Prot­ago­nistin in „Die Wut, die bleibt“, sondern uns gemeinsam auf die Straße legen, uns mitein­ander soli­da­ri­sieren und uns um einander kümmern? Welche Reak­tionen ruft so ein Verhalten bei „den anderen“ hervor?
Was sagt „die Gebär­mutter“ dazu, was „die Pistole“ und was „die Bericht­erstat­tung“? – diese drei kommen als Einschübe zwischen den einzelnen Kapi­teln zu Wort.

Die Autorin schil­dert vor allem den Kampf der Figuren gegen Einsam­keit und Unge­rech­tig­keit. Es geht um die Suche nach Gerech­tig­keit sowie die Sehn­sucht nach Liebe in einer hyper­ka­pi­ta­lis­ti­schen und noch immer patri­ar­chalen Gesell­schaft. Die Gewalt und andere Mecha­nismen, mit der sich das System zu erhalten versucht, fungieren als eher verschwom­mener Hinter­grund. Sie werden nicht im Detail beleuchtet, auch nicht die Frage, wer die Säulen dieses Systems sind. Viel­mehr wird der Moment des Umbruchs, des Umden­kens, Umdre­hens aus immer neuer Figu­ren­per­spek­tiven gezeigt. Dass es dabei pathe­tisch und sogar kitschig wird, stört mich als Leserin nur in seltenen Fällen. Redun­dante Stellen lassen sich tole­rieren oder notfalls über­blät­tern. Und Plau­si­bi­liäts- oder Detail­fragen will ich an den Text keine stellen. Denn es geht hier ums Prinzip.

Der Roman ist ein Plädoyer dafür, inne­zu­halten, stehen­zu­bleiben und über die Frage nach­zu­denken, ob wir wirk­lich so weiter­ma­chen wollen. Die Antwort wird mitge­lie­fert: Nein, nein und noch­mals nein! Wie es statt­dessen weiter­gehen soll, wie es nach dem Umbruch, nach der Verän­de­rung tatsäch­lich sein kann, verrät uns dieses Buch noch nicht ganz. Viel­leicht wird sich Fall­wickl in ihrem nächsten Werk damit auseinandersetzen.

 

Barbara Rieger, August 2024 

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Mareike Fall­wickl: Und alle so still
Rowohlt Hundert Augen
2024
368 Seiten
27 EUR

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