Grape­fruits oder Vom großen Ganzen. Eine Groteske – Isabella Breier

Eine Rezen­sion von Barbara Rieger

Wie viele Texte lassen sich in ein Buch fassen, wie viele Geschichten, Figuren, Erzähl­stränge, Perspek­tiven, Möglich­keiten, Ebenen, oder: Wie viele Leben haben in einem Platz? Was ist wann geschehen oder nicht, wurde nur erträumt, erdacht, von wem, in welcher Reihen­folge und welche Rolle spielt das?
Im rund 200 Seiten umfas­senden 2. Teil des Buches mit dem Titel: noch viel Spiel­raum, bis ich weiß. gesam­melt, geordnet und heraus­ge­geben von „Grape­fruits” (einem, wie sich später heraus­stellt, Künst­le­rIn­nen­kol­lektiv) – erwacht Eos in einem Kran­ken­haus­bett im Turm­sti­pen­di­en­städt­chen und fragt sich, welche der mögli­chen Geschichten – ihres Lebens – sich in Wirk­lich­keit zuge­tragen haben. Wir folgen ihrem Gedan­ken­strom, folgen ihr in das Provinz­stadt­kaf­fee­haus, in dem in verschie­denen Nischen das 16-/17-Jährige, das 25-Jährige und das 48-Jährige Ich sitzen und durch hohe Kaffee­haus­fenster wie durch Zeit­fenster in Vergan­gen­heit und Zukunft schauen und versu­chen, die jewei­lige Gegen­wart zu verstehen. Wir folgen ihr nach Argen­ti­nien, wo die Eltern ihrer Freundin Valen­tina der Mili­tär­junta zum Opfer fielen. Wir folgen ihr in den kleinen Nacht­club Lost Lids im Turm­sti­pen­di­en­städt­chen, in dem sie am Smart­phone Traum­skizzen proto­kol­liert und nicht akzep­tieren will, dass Valen­tina das von ihnen geplante künst­le­ri­sche Projekt nun doch nicht durch­führen will. Wir folgen ihr in eine Nische, in der sie sich immer wieder über­gibt und schließ­lich zusam­men­bricht.
Noch im Kran­ken­haus­bett und später bei einem Prozess muss Eos sich nicht nur für das Verschwinden eines berühmten Künstler-Kollegen und die Zerstö­rung seiner Mate­ria­lien recht­fer­tigen, sondern für ihr ganzes Leben. Bei diesem Prozess tritt auch eine andere Eos in Erschei­nung, eine, die ihr ähnelt, aber andere Lebens­ent­schei­dungen getroffen hat.
Es ist wohl die Eos aus den kürzeren Teilen des Buches (Teil 1 von der Atemnot & Teil 3 vom langen Atem), jene Eos, die eine Affäre mit dem berühmten Kollegen hatte und ihn als Schwindler entlarvte. Dass dieser, wie sich später heraus­stellt, in einen Hund verwan­delt wurde, ist einer der zahl­rei­chen komi­schen Höhe­punkte, die dem Unter­titel Groteske gerecht werden.
Neben dem atem­be­rau­benden Inhalt – Wie’s ist, wenn man nicht genug Luft kriegt, ist die Grund­er­fah­rung deines und meines Lebens. (S. 27) – der hier nur ansatz­weise wieder­ge­geben werden konnte, und den durch­drin­genden Fragen nach dem großen Ganzen (Wem gehört die Kunst und wem das eigene Leben?), ist es vor allem die Sprache selbst, die in ihrer Viel­fäl­tig­keit, Präzi­sion und Virtuo­sität den Text zusam­men­hält:
Ich löse mich auf in die Spuren der Sätze, die meine Haut über­ziehen, die Tisch­platte besie­deln. Über Arme, Beine, übers Dekol­leté und übers Sommer­kleid huschen kleck­sige Schrift­züge. Sie dringen durchs Moski­to­netz, schweben durch Dschun­gel­gar­ten­luft. (S. 415)
Wie schon in ihrem letzten Roman „Desert Lotus Nest” (Biblio­thek der Provinz 2017) arbeitet die Autorin mit verschie­denen Text­sorten, Typo­gra­phien und sprach­li­chen Mitteln, stellt diese colla­gen­haft zusammen und erzeugt dabei immer einen Fluss, nein, einen Rausch. So entsteht ein Meis­ter­werk des nicht-linearen Erzäh­lens, ein Buch wie ein Film von David Lynch, oder: wo Sprache eine wie ein Fieber befällt. (S. 437).

 

Barbara Rieger, Mai 2023

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Isabella Breier: Grape­fruits oder Vom großen Ganzen. Eine Groteske
Wien: fabrik.transit 2022
468 Seiten
24 EUR
ISBN: 978–3‑903267–44‑2

 

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