Mit allen Sinnen – Petra Ganglbauer

Eine Buch­re­zen­sion von Erika Kronabitter

Wer in einer Stadt geboren ist, muss sie nicht unbe­dingt lieben. Bei manchen Menschen stellt sich zum Ort der Geburt eine Art Heimat­liebe ein. Obwohl sie außer der Tatsache, dass dieser Ort der Geburtsort ist, nichts weiter mit ihm zu tun hatten. Eine uner­klär­liche Verbun­den­heit. Ein anderer Teil der Menschen empfindet eine Fremd­heit, das Gefühl, falsch zu sein. Falscher Ort. Falsche Familie. Eine Stadt, in die sie nicht gehören. Wieder ein anderer Teil ist in der Stadt geboren, hier aufge­wachsen. Fühlt sich als Kind dieser Stadt und hat diese trotzdem verlassen. Graz, eine Sehnsuchtshassliebe.

Petra Gangl­bauer ist Kind einer solchen Stadt. Eine Tochter Graz‘, die ihre Stadt verlassen hat. In acht Kapi­teln nähert sich die Graz-Tochter nach langer Absenz, Stipp­vi­siten, Umkrei­sungen, Drop-In und Drop-out der Stadt neu. Sie hat dafür einen lite­ra­ri­schen Weg in acht Kapi­teln gewählt: Über­le­gungen, Bilder, Bild­zer­stö­rung, Mythen, Gerüche, Versprengte Spazier­gänge (u.a.), Graz als unge­liebter Vater und Hotel.

Am Anfang war nicht das Wort, sondern Emotion, Nach­fühlen. Wie kann eine Annä­he­rung erfolgen? Uner­füllte Sehn­sucht: „Graz ruft mich nicht an!“ Ein perso­ni­fi­ziertes Graz, Graz als viele Personen. Stadt allein ist nicht. Stadt, das Leben in der Stadt, vor allem, wenn man dort aufge­wachsen ist, ist mit Menschen verbunden. Stadt, das ist das Bild dieser Stadt, die man in sich trägt. Mit sich herum­trägt. Stadt ist für eine Rück­keh­rende die Erin­ne­rung an diese Stadt. Die „gespei­cherte Beschaf­fen­heit“, wie die Autorin in ihren philo­so­phi­schen Minia­turen fest­stellt. Stadt ist Geruch, Geschmack, Klang.

Mit diesem Ansatz im Forsche­rin­nen­ge­päck machte sich die Autorin auf, die Fährten in „ihrer“ Stadt aufzu­spüren. „Graz ist..“ Schau­listig und schau­lustig arbeitet die Autorin mit Dekon­struk­tion, auf der Meta­ebene. Beob­ach­tungen und Refle­xionen vermi­schen sich mit Zitaten aus früheren Aufzeich­nungen: „Manie­riertes in Eiswür­fel­größe. Hand­lich sortiert, nicht für / alle, für wenige. / […] Patri­ar­cha­li­sches Geratter.“ Wer das Graz von damals kennt, kann durch die gläsernen Würfel, durch welche einen die Autorin blicken lässt, die dama­lige Situa­tion erkennen: „Das Uner­probte nicht gestattet. / Schon gar nichts Weib­li­ches. / Was nicht zöglings­haft sich bückte […], fand sich bald unter lautem Schnee­ge­töse.“ Was Graz bei der jungen Autorin auslöste, zeichnet das Gedicht: „Graz schmeckt nach / LEBERTRAN / & / MAGENBITTER // (an anderen Tagen)“ (S. 51).

Graz ist Anders“ – die Autorin kennt die Werbe­linie der Stadt. Versucht sich zu verstellen, sich vor sich selbst zu verstellen und Graz eine Chance zu geben: Als Touristin schlen­dert sie durch die Herren­gasse, mit dem Stadt­plan, hört junge, andere Stimmen. Die patri­ar­chalen Platz­be­setzer von früher sind abge­griffen, ihre Unter­drü­ckungs­ver­suche verpufft. Die zurück­ge­kehrte Autorin hingegen ist stark, hat Kraft. Die Augen der Passanten leuchten, wenn sie aus ihrem Buch vorliest.
Die Gerüche von Graz sind viel­seitig: Da ist die Zucker­watte, der August­sommer, Chlor und Scho­ko­lade im Augar­tenbad, der Sauna­ge­ruch, Benzin, Kaffee. Auch die frisch­ge­druckte Zeitung verströmt einen eigenen Geruch.

Straßen, Plätze und Denk­mäler im Kapitel VI stellen den Haupt­teil des Buches dar: Das Murufer, das Augar­tenbad, und schon ist die Autorin in die Vergan­gen­heit geswitcht, ist wieder das frie­rende Kind mit den Fäust­lingen, das sehn­süch­tige Kind vor der Wohnung des Vaters in der Stop-and-go-Gasse, die junge Studentin in der Kondi­torei in der Girar­di­gasse. Beson­ders hebt sich die Erin­ne­rung an die Groß­mutter hervor, welche die Autorin als „die vom Alter verklei­nerte Frau“ bezeichnet.
„Die vom Alter verklei­nerte Frau“ ist es auch, die in den Leech­wald einen Klapp­stuhl mitnahm, um nicht müde zu werden. Damit sich das kleine Mädchen so lange wie möglich bei einem morschen Baum­strunk und den Fanta­sien zu dessen Schat­tie­rungen, Mase­rungen, spie­ßigen Holz­stü­cken, Rillen und Furchen, Löchern und Feucht­stellen hingeben konnte. Eine Liebes­er­klä­rung – auch an die Großmutter.

Wunder­bare kleine Episoden sind mit den verschie­denen Stra­ßen­namen verbunden. Die Stadt, alles Vorge­fun­dene, wird Text für die Autorin. Die Erin­ne­rungs­punkte reichern sich mit den Geschichten von damals an. In kurzen Sätzen, ellip­ti­schen Umkreisungen.

Die Autorin traut ihrer Erin­ne­rung nicht, nicht ganz. Wissend, wie sich Gehirn und Erin­ne­rung verhalten, stellt sie daher gegen Ende des Bandes die Frage: „Oder war alles anders. / (Oder ist alles anders?)“ Auf dem Mursteg entgleitet ihr die Gegen­wart und „ich rutsche beinahe aus“ (S. 67).

Petra Gangl­bauer schreibt sich ein in eine Stadt, die sich ihr Jahre verwei­gert hat. Graz, eine Stadt, die domi­niert war von ichbe­zo­genen, selbst­ver­liebten Platz­hir­schen (männ­li­chen alle­samt), die anders­den­kenden, kritisch agie­renden Frauen den Platz verwehrten.

Mit allen Sinnen“ ist mehr als ein Graz-Buch. Es ist einer­seits ein lite­ra­ri­sches Kunst­werk einer Stadt­an­nä­he­rung, ein stabiler Reise­be­gleiter, mit welchem die Lese­rInnen durch das Graz der Gegen­wart geführt werden. „Mit allen Sinnen“ ist auch eine Stadt­bio­grafie der Schrift­stel­lerin Petra Gangl­bauer. Wir Lese­rInnen haben die Stimme und die Geschichten der Tochter dieser Stadt im Ohr, wenn sie uns mit ihrer Stadt­bio­grafie durch ihr Graz führt.

Erika Kronabitter, Juni 2018

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Petra Gangl­bauer: Mit allen Sinnen
Graz: Edition Keiper, 2018 
100 Seiten
EUR 19,00
ISBN: 978–3‑903144460