Vagabondage. Historische und zeitgenössische Facetten des Vagabundierens in Wien – Hrsg. Andreas Pavlic, Eva Schörkhuber
Eine Rezension von Brigitta Höpler
Va · ga · bon · da · ge ist laut Duden ein spezifisch österreichischer Ausdruck für die Lebensform einer Gruppe, sozial bestimmter Figuren, oder kurz: Landstreicherei, Herumtreiberei.
Vagabondage, in der lexikalischen Silbentrennung geschrieben, ist auch der Titel der wissenschaftlich-künstlerischen Anthologie von Eva Schörkhuber und Andreas Pavlic. Die Silbentrennung gibt dem Begriff schon in der Covergestaltung einen weiten Raum, der den Band auch inhaltlich charakterisiert.
Die Herausgeber*innen nehmen Wien als Ausgangspunkt und Schauplatz der Vagabund*innen-Bewegungen. Die kulturhistorischen Beiträge untersuchen die Gegebenheiten, warum sich Menschen auf den Weg gemacht haben. Da geht es sehr schnell um die frühkapitalistische Einhegung von Grund und Boden und ein Lohnarbeitsregime, dem sich viele Menschen entzogen, weil sie ihre Lebenszeit nicht zu einem Spottpreis verkaufen wollten. Diese Widerständigkeit bewegt sich in der Spannung zwischen Präkarisierung, Illegalisierung auf der einen und einer gewissen Romantisierung des utopischen Momentes, der Autonomie und Selbstbestimmung auf der anderen Seite. Diese Romantisierung zu brechen, ist auch ein Anliegen der Anthologie.
Die Beiträge beschäftigen sich auch mit dem beinahe widersprüchlichen Versuch, die Vagabund*innen in den 1920er Jahren politisch zu organisieren. 1927 gründete Georg Grog die Bruderschaft der Vagabunden. Als deren Sprachrohr erschien im selben Jahr die erste Straßenzeitung Europas, „Der Kunde“. Zwei Jahre später folgte der erste Vagabund*innen-Kongress in Stuttgart.
Von den historischen Gegebenheiten ausgehend, erweiterten die beiden Herausgeber*innen diese Anthologie um eine vielfältige zeitgenössische wie auch künstlerische Facette.
Natalie Deewan knüpft an die Tradition der Zinken (geheime Schriftzeichen der Vagabundierenden) an, entwickelt eine Graffiti-Recyclingschrift, die Heterotopia Sign Vienna. Sie greift dabei auf die unterschiedlichen Personenbezeichnungen für Vagabund*innen im Buch „Fahrende und Vagabunden“ der deutschen Soziologin und Autorin Angelika Kopečný zurück. So wandern die in Schriftzeichen übersetzten Gestalten durch den Band.
Anna Leder überträgt die Geschichte einer sogenannten 24-Stunden-Pflegerin in ein brüchiges Heldinnenepos in Versform.
Andere Beiträge beschäftigen sich mit der Boulevardzeitung AUGUSTIN, künstlerisch-sozialen Projekten, mit Fragen des städtischen Wohnens, der Straßenmusik, den Gegebenheiten rund um ein Museum der Migration und einer Reise auf den Spuren der Warden.
Vagabondage eröffnet nicht nur einen Diskurs und regt zur weiteren Forschung an, sondern ist auch ein facettenreiches Stadtbuch der anderen Art, das unsere Wahrnehmung ganz bestimmt weitet, vertieft und uns hoffentlich auch aufmerksamer und solidarischer mit dem Recht auf Stadt für alle macht.
Brigitta Höpler im Februar 2023
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Hrsg. Andreas Pavlic, Eva Schörkhuber: Vagabondage. Historische und zeitgenössische Facetten des Vagabundierens in Wien
Wien: Sonderzahl Verlag 2022
232 Seiten
28 EUR
ISBN 978–3‑85449–611‑3
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