Zur See – Dörte Hansen
Eine Rezension von Kathrine Bader
Kapitel für Kapitel lässt Hansen die Charaktere immer deutlicher hervortreten – die Mitglieder der Familie Sander. Da ist Hanne Sander, die früher an Sommerfrischler vermietet hat, denen die Kinder weichen müssen, wenn sie nicht gerade „wie ein Fahrrad“ ausgeliehen werden. Jetzt kommen nur mehr Kurzurlauber auf die nicht näher bezeichnete Nordseeinsel. Nun leitet Hanne das kleine Inselmuseum, sammelt Spenden für das Skelett des Pottwals, der eines Tages strandet. Und sie rationiert das Tagespensum an Bier für ihren älteren Sohn Ryckmer, der sich „vom Kapitän auf großer Fahrt zum Deckmann […] herabgesoffen hat“. Immerhin taugt er noch zum abgetakelten „Seebär für die Touristen“, die an den Wochenenden und zu den Feiertagen mit der Fähre auf die Insel geschwemmt werden. Die die „Insel nutzen wie ein Sauerstoffgerät“. Wenn sie nicht überhaupt eines der noch erhaltenen reetgedeckten Häuser mit den Delfter Fliesen an den Wänden, den schweren Möbeln und den Knochenzäunen als Feriendomizil erstanden haben.
Hannes Mann Jens hat sich schon vor zwanzig Jahren in eine Stelzenhütte auf dem Driftland zurückgezogen, wo er Seevögel kartiert und Tiere präpariert. Seine Isolation wird ihm erst bewusst, als „der Junge mit dem Klappcomputer“ wieder fort ist und ihn „wie ein betäubtes Tier“ zurücklässt.
Der jüngere Sohn der Sanders, Henrik, von Kindesbeinen an ein stets barfüßiger Eigenbrötler, sammelt täglich Treibholz, das er zu eigenartigen Kreaturen verarbeitet, die in der Kunstwelt gut ankommen. Seine Schwester Eske, beinahe ganzkörpertätowierter Heavy-Metal-Fan, kümmert sich beruflich um Pflegebedürftige in einem Altersheim und versucht im Privatleben, die Familie irgendwie zusammenzuhalten.
Da ist dann noch Klara Loof, die sogar noch ihren übergewichtigen Hund in einer Babytragetasche herumträgt, als er schon tot ist. Außerdem der Inselpastor Mathias Lohmann, der an den „Tagesrändern“ joggt, um keinen Ausflüglern zu begegnen und nicht mit den Einheimischen ins Gespräch kommen zu müssen. Am Strand holt er sich die Inspirationen für seine Predigten und „Seelensnacks“. Nicht zuletzt, weil seine Frau Katrin für eine „Auszeit“ auf das Festland flüchtet, befindet er sich in einer Sinnkrise, auch die bösen Einträge im Gästebuch der kleinen Kirche tragen das ihre dazu. Wie fast nur die Jungen unter „Heimwehschüben“, haben sich auch seine beiden abtrünnigen Töchter aufs Festland gerettet.
Nur wenige schaffen es, dem „Erbe der Grönlandfahrer“ abzuschwören und nicht „das Frieren [zu] üben, wie es schon die Vorfahren getan haben“.
„Zur See“ lässt einen nachdenklich, aber nicht hoffnungslos zurück. Wie in „Mittagsstunde“ geht es auch in Hansens drittem Roman um bröckelnde Traditionen und eine sich verändernde, dem Untergang geweihte Welt. Es geht um Einsamkeit, Schiffbrüchige, Kälte und die Schwierigkeit von Beziehungen. Und wieder ist es die kraftvolle Sprache der Autorin, bei der kein Wort zu viel ist, bei der jeder Satz trifft und man sich an den großartigen Sprachbildern berauschen kann.
Kathrine Bader, Dezember 2022
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Dörte Hansen: Zur See
Innsbruck-Wien: Penguin 2022
256 Seiten
25 EUR
ISBN-13: 978–3328602224
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