Alles ist Erzählung
Ein Interview mit Erika Kronabitter
Wir kommunizieren nicht nur mit Worten, sondern auch nonverbal. Das macht Sprache zu einem Machtinstrument, sagt BÖS-Dozentin Erika Kronabitter.
BÖS: Gibt es tatsächlich eine Grenze beim Erzählen?
Erika Kronabitter: „Erzählen” ist eine anthropologische Konstante. Alles ist Erzählung: Überlieferungen aus der Vorzeit, ein Telefongespräch ebenso wie ein Traumbericht, ein Therapiegespräch, die Lebensbeichte, Witze, Lügen. Wenn ein Mord passiert, kann davon erzählt werden, Kindern werden über das Erzählen Lerninhalte vermittelt. Verbales Erzählen setzt eine/n Erzähler/in voraus, welche von den Dingen berichtet.
Die von Ludwig Wittgenstein aufgestellte These „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt” meint die Grenze, die dort stattfindet, wo Sprache aufhört, wenn zum Beispiel die Möglichkeit fehlt, sich aufgrund fehlenden Wortschatzes zu artikulieren, oder auch dass aufgrund fehlender Lesefähigkeit/Bildung das Verständnis für die Dinge der Welt fehlt. Daher ist es wichtig, dass die Menschen lernen, mit der Sprache als elementarem Kommunikationsmittel und ihren Variationen umzugehen, die Sprache als politisches, gesellschaftskritisches und Machtinstrument zu erkennen.
Eine andere Art der Erzählung ist aber auch die Landschaft, die Natur, die Kleidung, die Frisur: Nonverbales wird somit ebenfalls zu einem Erzählmittel, zu einer Aussage. Schreibende sind in der Lage, über Dinge, worüber sie nicht sprechen können, zu schreiben, indem sie dieses „Es” umschreiben.
BÖS: Was macht eine objektiv gute Erzählung aus?
Erika Kronabitter: Man muss nur den Bachmannpreis zu verfolgen, um zu wissen, wie strittig eine „objektiv gute Erzählung” ist. Ein einziges wahres, richtiges „objektiv” gibt es nicht, ebenso ist „gut” von vielerlei abhängig. Je nach sprachlich-literarischer Affinität kann eine Erzählung für den einen spannend und unterhaltend sein, bei der anderen Langeweile und Ödnis aufkommen lassen. In der schule wird „gut” verwendet für „Aufgabe anweisungsgemäß erfüllt”, das entspricht einem soliden Arbeiten. Im künstlerisch-literarischen Schreiben bedeutet „gut” Inspiration, unkonventionelle, neue Zugänge, neue Erkenntnisse – das wäre auch schon „richtig gut”.
BÖS: Was erzählst Du persönlich am liebsten?
Erika Kronabitter: Schreibend erzähle ich gerne über Seelenleidlandschaften. Kleine stille Betrachtungen mit Zwischentönen. Manchmal erfordern die Verhältnisse allerdings auch das Gegenteil, zum Beispiel suadenhafte Spitzigkeiten.
Erika Kronabitter, Oktober 2020
Erika Kronabitter leitet den Workshop „Epik“ am 9./10./11. Oktober.
Foto: Peter Bosch