Es geht um die Figuren im Text
Ein Interview mit Gerda Sengstbratl
Schreiben ermöglicht Lernenden, Glückserfahrungen zu haben. Das ist ganz besonders wichtig für Schülerinnen und Schüler, sagt Gerda Sengstbratl.
BÖS: Warum brauchen Lehrpersonen Inspirationen, um ihre SchülerInnen zum Schreiben zu motivieren?
Gerda Sengstbratl: Viele LehrerInnen stecken in einem Korsett von Regelungen und Vorschriften. Viele glauben, sie müssen fast alle befolgen. Der Österreichische Lehrplan – Didaktisch-Methodische Grundsätze – ist ein revolutionäres pro-SchülerInnen-Werk. Diese Schrift fördert Weite und Freiheit von SchülerInnen und die Freiräume von Lehrpersonen. Sie gibt uns Rückendeckung.
Schreiben ermöglicht Lernenden (und natürlich uns auch), Glückserfahrungen zu haben. Sie wagen etwas und niemals fallen sie. Sie landen immer weich, wenn die Regeln so gebaut werden, dass sie Wachstum ermöglichen. Das zeige ich. Unsere Arbeit wird zu etwas, was leuchtet. Sie erfüllt Lernende und Lehrende gleichermaßen. Alles wird lebendig. Es wird geweint und gelacht. Es wird experimentiert und sich gerieben. Schreiben kommt Mädchen entgegen. Das, was sie gerne machen, machen sie im Unterricht. Burschen müssen sich mit etwas befassen, was sie nicht so gut können. Es nimmt viel von der Automatik der männlichen Dominanz aus dem Unterricht. Free Writing gibt die Möglichkeit, sich auszudrücken. Fehler zu machen ist kein Problem. Die Lehrerin tritt aus dem Bild. Wird zum Coach. Wenn wir hinaustreten aus der DU-ICH Beziehung, und vor uns nur der Text liegt und wir sagen: der Text beschreibt…. im Text … die Ich-Erzählerin….beginnen sich die SchülerInnen zu öffnen, weil es nicht um sie geht, sondern um die Figuren im Text. Damit wird nicht beurteilt, was sie schreiben. Freiheit entsteht. Das ist sehr wichtig, wenn es darum geht, Vertrauen zu schaffen. Fehler machen dürfen. Fehler sind dazu da, in der Überarbeitung verbessert zu werden. Schlecht schreiben zu dürfen, ist wichtig.
Grenzen sind auch wichtig. Keine Nazisachen. Kein Sadismus. Keine Geheimnisse. Alle Texte sind öffentlich. Das ist sehr wichtig. Und natürlich keine Texte über Inhalte, die ich im Internet finde.
Free Writing in der Schule ermöglicht es uns, die Frequenz solcher Glückserfahrungen für Lernende und für uns selbst zu erhöhen. Die Angst vor Fehlern verschwindet. Die Mehrheit kommt in einen Schreibfluss. Fast alle erinnern sich an ganze Texte, wenn sie nur ein, zwei Sätze daraus hören.
BÖS: Verstehe ich das richtig, dass Teilnehmende an deinem Workshop vier Jahre miteinander wachsen?
Gerda Sengstbratl: Ich habe das Free-Writing und alle anderen Schreibzugänge über viele Jahre im Regelunterricht eingesetzt. Im Fach Englisch. Der Unterricht in der Fremdsprache bestand aus Schreiben (Free Writing) und Lesen/ Sprechen/ Hören. Das Schreiben bezog sich immer auf Inhalte, die im Unterricht vorkamen und konnte dann in irgendeine nicht vorher geplante Richtung gehen. Die SchülerInnen waren in der Oberstufe vier Jahre zusammen und lernten einander langsam kennen. Alle verließen die Schule mit einem fertigen gebundenen Buch aus den Texten von vier Jahren Oberstufe. Entstanden aus vier Jahren Hausaufgaben.
BÖS: Wie wurdest du als Schülerin zum Schreiben animiert?
Gerda Sengstbratl: Ich wurde als Schülerin nicht animiert. Ich hatte und habe ein großes Mitteilungsbedürfnis. Ich liebte es, Schularbeiten zu schreiben, wenn mir das Thema zusagte. In der Stille etwas zu schaffen, womit ich mich selbst überraschte. Ich spürte danach große Zufriedenheit. Und eine große Aufgeregtheit. Es gab ein Gegenüber – die Lehrperson. Die oder der würde das lesen. Und natürlich hoffte ich, mein Text würde gefallen. Manchmal tat er es.
Wichtig für mich als Lernende war nicht die Schule, sondern mein Studium in den USA und ein Post Graduate MA-Studium. Holistic Language Learning. Meine Reflexionen waren plötzlich von Bedeutung. Alles, was ich dachte und schrieb, war willkommen und wurde geschätzt, begrüßt. Wir mussten unendlich viel schreiben und die Professorinnen und Professoren reagierten nicht auf Fehler, sondern auf Inhalte. Sie traten mit mir in Dialog. Sie stellten sich zur Verfügung. Sie gingen auf mich ein. Sie klebten Post-Its mit ihren persönlichen Reaktionen an bestimmte Textstellen, um zu signalisieren, dass die Texte unser Eigentum wären. Es gab Dozentinnen, die aus genau diesem Grund mit Bleistift verbesserten. Viele dieser Erfahrungen habe ich schultauglich adaptiert.
Der Schreibworkshop „Writers’ Class. Schreiben in der Schule“ mit Gerda Sengstbratl findet am 11./12. Februar 2023 statt. Anmeldungen bitte an office@boesmail.at