Boshaft? Neeeiiin! 2

Texte von Silvia Seitl

Anamnese / Self study

Silvia S. wurde gestern Abend um ca. 1 Uhr früh mit starken Kopf­schmerzen ins AKH Wien eingeliefert.

Zum Zeit­punkt der Aufnahme klagt die Pati­entin über starken Druck im Kopf- und Schlä­fen­be­reich sowie plötz­liche Erschöp­fungs­zu­stände. Die Pati­entin ist sicht­lich aufge­wühlt und berichtet sehr detail­liert darüber, dass die Symptome um ca. 24 Uhr nachts so stark wurden, dass sie das drin­gende Bedürfnis hatte, „den Kopf abzu­legen“ (Zitat). Lt. den Schil­de­rungen der Pati­entin fühlte sich der Kopf plötz­lich so schwer „wie eine Riesen­was­ser­me­lone“ (Zitat) an.

Nach ersten Unter­su­chungen, konnte ein akuter Notfall mit sofor­tigem Hand­lungs­be­darf ausge­schlossen werden.

Das einzige Indiz für eine Unre­gel­mä­ßig­keit zeigte sich bei der neuro­lo­gi­schen Unter­su­chung. Umfas­sende Messungen ergaben ein durchaus häufiges Krank­heits­bild preis: Hyper-Menta­litis mit starker Akti­vität im prognos­ti­schen Hirnareal.

Zu den häufigsten Symptomen dieser Krank­heit zählen ein leichtes Rauschen, das von vielen Patient*innen wahr­ge­nommen wird, sowie ein starker Druck im Bereich des Kopfes, gefolgt von plötz­lich einset­zender Erschöpfung.

Die Ursache liegt darin, dass die betrof­fene Pati­entin ohne Unter­lass für schnelle Hirn­ströme sorgt, die die Über­tra­gungs­leis­tung einzelner Hirn­zellen ans Limit bringt – oft bis hin zur Über­hit­zung einzelner Areale.

Auslöser dafür können unkon­trol­lierte, ins Unend­liche hinaus­ge­zö­gerte Entschei­dungs­fin­dungs­pro­zesse sein. Die Pati­entin provo­ziert ihr Gehirn Prognosen und Zukunfts­sze­na­rios bis zum neuro­lo­gi­schen Total­aus­fall zu erzeugen.

Die Folge sind oft plötz­lich einset­zende Müdig­keit – ohne konkret einset­zende Handlung.

Auf Basis dieser Diagnose werden der Pati­entin regel­mä­ßige „Denk­pausen“ verordnet. 3‑mal täglich morgens, mittags und abends soll der zentrale Kipp­schalter am unteren Hinter­kopf betä­tigt werden.

Die Denk­leis­tung wird so für 30 Minuten auf Mini­mal­be­trieb redu­ziert und die Fest­platte kann neu forma­tiert werden. Dies führt bei regel­mä­ßiger Anwen­dung über einen Zeit­raum von zwei Wochen zu einer natür­li­chen Regu­la­tion der Denk­leis­tung und mess­barer Entspan­nung der Patientin.

 

Wissen, um zu leben oder leben, um zu wissen.

Was bedeutet eigent­lich das Wort „Wissens­ge­sell­schaft“? Dass die Menschen mehr Wissen haben, dass sie leichter zu mehr Wissen kommen oder dass sie irgend­wann nur mehr aus einem großen Hirn­kastl bestehen, weil sie ja so viel wissen, sie es aber nicht einmal mehr schaffen, aus eigener Kraft zum Super­markt um die Ecke zu gehen: 1. weil sie sich ohnehin für keines der ange­prie­senen Produkt entscheiden können (nicht bio genug, nicht regional genug, regional aber nicht bio, zu viel Fett, zu wenig Fett, etc.) oder 2. weil sie schlicht und einfach vergessen haben, ihren Körper zu benutzen, in sich hinein zu spüren und zu leben – und nicht nur zu denken.

Gibt es doch so vieles, was man wissen und tun sollte bzw. (online) lernen kann. Jede/r kann/ist Experte/Expertin für irgendwas bzw. eigent­lich eh fast alles. Oder eigent­lich für fast nichts, weil kaum geht‘s ums eigene Leben, hapert‘s in der Umsetzung.

Am Abend werden ganz emsig große Netflix-Dokus zu wich­tigen gesell­schaft­li­chen Themen geschaut. Wie bei diesen nerven­auf­rei­benden Dokus üblich, bleibt dabei kein Auge trocken und man wird mit Statis­tiken, dunklen Zukunfts­pro­gnosen und eindrück­li­chen Bildern des Kultur­pes­si­mismus über­häuft. Nach dem totalen Versinken in die verstö­rende Insze­nie­rung des Welt­un­ter­ganges wird noch am selben Abend ein schnelles State­ment per Whatsapp in die Freun­des­gruppe geschickt: „Es ist ja wirk­lich schreck­lich! Na, so arg!“. Man wirft sich gegen­seitig Zahlen an den Kopf – Zahlen, die zwei­fels­ohne stimmen, die aber durch ihre poin­tierte wissen­schaft­liche Aufbe­rei­tung jegli­chen Bezug zur Lebens­rea­lität verlieren.

Jeder ist empört, aber niemand fühlt sich wirk­lich betroffen. „Es muss sich unbe­dingt was ändern – aber nicht bei mir. Das Problem sind die anderen.“ Wenn ich mir auch nur 10 Minuten einer solchen Doku zu Gemüte führen würde, würde ich in kürzester Zeit jegliche Hoff­nung und Schön­heit des Lebens begraben und vermut­lich einen halben Liter Baldri­an­tropfen brau­chen, um danach auch nur ansatz­weise Schlaf zu finden.
Aber die Menschen sind anschei­nend mitt­ler­weile emotional so abge­stumpft, dass sie sich am darauf­fol­genden Abend problemlos noch einige Dokus dieser Sorte „rein­ziehen“, um noch mehr theo­re­ti­sche, in Zahlen und Statis­tiken gegos­sene Gründe dafür zu finden, was alles falsch läuft in unserer Gesell­schaft. Bei der nächsten Diskus­sion im Freun­des­kreis können sie sich dann wieder gegen­seitig über­trumpfen – und ihren Status in der soge­nannten „Wissens­ge­sell­schaft“ nochmal aufbessern.

Einzig wenn man dann nachts im Bett liegt, mit dem feinen Baum­woll­py­jama aus biolo­gi­schem Anbau aus fairer Produk­tion, auf einem Polster mit regio­nalen Zirben­holz­spänen gefüllt, mit einem Buch mit dem Titel „How to be a better human“ am Nacht­tisch, beru­hi­genden Walge­sänge aus irgend­einer teuren Entspan­nungs-App in den Ohren, und nach 2 Stunden immer noch hell­wach mit klop­fendem Herzen daliegt, spätes­tens dann sollte man even­tuell einmal ernst­haft in Erwä­gung ziehen, sich einmal ganz aufmerksam und ehrlich selbst zuzu­hören, anstatt der ständig plap­pernden und allwis­senden Gesell­schaft da draußen.

 

Die Texte von Silvia Seitl sind im Schreib­work­shop „Der boshafte Blick. Ironie – Parodie – Satire“ bei Britta Mühl­bauer entstanden.