in zeiten eines tagebuches – Teil 2
Ein Text von Brigitte Krech
in zeiten eines tagesbuches: 2055
3. März 2055, Mittwoch
Heute früh hagelt es kurz. Ein Wettereingriff wurde gestern Abend angekündigt. ‚Regen schaffen sie nicht‘, denke ich laut. Das interaktive E‑Modem hat mich als Frage verstanden. Gibt mir in 5 Sprachen eine Definition von Regen. ‚Regen schaffen sie einfach nicht‘, sage ich leise zu mir.
31. März 2055, Mittwoch
Später ein Treffen mit dem SeniorInnenclub. Zum Hand-Schreiben. Heute ist auch das Leitungswasser der Klasse 2 für Körperpflege freigegeben. Ich freue mich auf die 2‑Minuten Dusche. Es ist schwierig geworden, normales Papier zu finden. Ohne Informationen über das Geschriebene weiterzugeben. Ich habe jedoch einen Karton alter leerer Schreibhefte. Das Thema zum Hand-Schreiben: Erinnerungen. ‚Erinnert ihr euch an das Jahr 2019?‘ ‚Wir waren jung, nicht mehr so jung. Wir haben uns geärgert. Nicht mehr geärgert. Sind spazieren gegangen. Saßen im Kaffeehaus. Lasen in einem richtigen Papierbuch. Blätterten die Zeitung durch. Die Finger ergrauten leicht von der Druckerschwärze. Eine von uns hat eine atemlose Nacht mit ihrem Mann verbracht. Es gab das Handy. Was für ein lustiges Wort. Handy.‘
5. Mai 2055, Mittwoch
Mein Kühlschrank spielt zum 11. Male die Internationale. Schon wieder ein neuer Virus. Ich drücke den Knopf an die IT-Polizei. Heute hat das Bibliotheksarchiv geöffnet. Ich freue mich auf den Duft vergilbten Papiers. Das Gebäude ist angenehm gekühlt. Meine alte Hand streift über Buchrücken. Ein paar Titel zwinkern mir zu. Ich zoome meine Lesebrille auf 100% und mache heimlich ein paar Aufnahmen der ersten Seiten. Dann gehe ich langsam nach Hause.
6. Mai 2055, Donnerstag
Alter kennt keine Torheit. Ich lade zum ersten Mal meine Nachbarin ein. Ohne den Sicherheitscheck zu aktivieren. Eine junge zurückgezogene Person, die immer freundlich grüßt. Ich biete ihr ein Glas Wein an. Guter Wein aus Schweden. Sie will von mir mehr über meine junge Zeit wissen. Ich rede aus der Vergangenheit. Immer wieder unterbricht sie mich, wenn ihr etwas seltsam erscheint.
1990 oder 1991. Interrail gab es damals. Jung sein mit Dauerwelle. Die Ausbildung steckt vor der Tür. Schulterpolster in der Bluse. Am Jackett. Die Markenbesessenheit steht nur auf wenigen Namen des Polo-Shirts. Engagement im Dritte-Welt-Laden. Reise mit dem Zug. Ich fahre mit A. nach Budapest. Es muss Juli sein. Wir übernachten in einem Hostel auf der Budaer Seite. Überall Kakerlaken. Am Türgriff. Im Kühlschrank. Sie stolzieren über den Strudel. An der Wand. Schreie gegen das Getier. Zurück an die Rezeption. Der junge Mann mit slawischem Namen gibt uns erst einmal einen Schnaps. Langsam brennt sich Ruhe ins Gemüt. Am Ende sind wir beide, A. und ich, sanft wie die Engelchen und in den Burschen verliebt. Nikolai Popov heißt er. Stolz lasse ich mir einen Stempel mit seiner Unterschrift in den Jugendherbergsausweis geben. Er gibt uns ein anderes Zimmer.
So war das Leben damals in der Vergangenheit. Wundert sich die Nachbarin.
Brigitte Krech ist Wahlwienerin. Arbeitet im internationalen Umfeld. Studierte Geografie, Politik, BWL, Osteuropastudien in Heidelberg, London, Mannheim und Budapest. Hobbies: Lesen, Wandern, Reisen, Schreiben, Radfahren.
Brigitte Krech ist Absolventin des Lehrgangs Schreibpädagogik 2018/ 2019.