Woan­ders daheim sein

Ein Text von Sandra Bauer-Wagner

Bregenz, das ist sechs­hun­dert Kilo­meter von Wien entfernt zu sein.

Das ist, an lauen Sommer­abenden mit Freunden am See zu grillen.
Das ist, selbst zu kochen, das ist zuhause Feste zu feiern, das ist selten essen zu gehen, niemals Essen zu bestellen.
Bregenz, das ist auf den Berg zu wandern, am See zu spazieren, im See zu schwimmen.

Das ist ein Hinter­fragen, wer deine wahren Freunde sind, an wen du denkst und wer auch an dich denkt. Das ist Listen zu führen, weil du sonst den Über­blick verlierst.
Das ist, niemanden wirk­lich lange und richtig gut zu kennen. Das ist kein sich sofort Anver­trauen, das ist ein sich langsam Annä­hern, ein Vortasten, ein sich zu fragen, wem man was erzählen kann.

Das ist die Gewiss­heit, dass es im Westen anders läuft als im Osten.

Bregenz, das ist ein beob­acht­barer Stolz aufs Land, ein hartes Arbeiten, ein Ziel vor Augen zu haben, ein eigenes Haus bauen zu wollen.
Das ist ein anderer Klang deiner Mutter­sprache, das ist eine Art von Fremd­sein im eigenen Land.
Das ist sich wohl­zu­fühlen in den eigenen vier Wänden, sich weiter­zu­ent­wi­ckeln, eine Familie zu gründen.
Das ist, mit dem Rad zum Markt zu fahren, zufrieden zu sein mit einem Leben ohne urbanen Charakter, eine Hand­voll Geschäfte zur Auswahl zu haben, ein über­schau­bares Angebot an Kunst und Kultur selten zu nützen.

Bregenz, das ist vorsichtig Verrücktes, tradi­tio­nell Boden­stän­diges, das ist ordent­lich rebel­lisch zu sein, das ist Vorreiter sein.
Das ist, sich etwas zu trauen und Neues auszu­pro­bieren, bewusst zu leben und auf Qualität zu achten.

Das ist, alle zwei Monate sieben Stunden mit dem Zug nach Wien zu fahren. Das, ist die Eltern und die Schwester selten zu sehen.
Das ist mehr Schreiben als Reden.
Das ist ein Fokus auf das Wesent­liche, ein Aussor­tieren des Lebens, sich zu konzen­trieren auf den Kern, der das eigene Leben tatsäch­lich ausmacht.

Bregenz, das ist etwas, das immer schöner wird, je länger du da bist.

 

(inspi­riert durch Maria Barbal)
Entstanden im Work­shop “Urbane Text­felder” bei Brigitta Höpler

Sandra Bauer-Wagner, August 2019

 

Sandra Bauer-Wagner, geboren 1981 in Wien, Studium der Sino­logie sowie Wirt­schaft und Gesell­schaft Ostasiens in Wien und Shanghai. Lebt seit 2015 in Bregenz, arbeitet als Lektorin für Ärzte ohne Grenzen. Schreibt an allen Orten, oft am Wasser, weil das Leben dort so gut in die Nase kriecht.

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