Kreuz und Quer
Ein Text von Tobias March
Kreuz und quer
Auf Englisch las sie vor, was sie uns zu erzählen hatte. Eine Geschichte eines Mädchens, dass ihren Vater verlor. Der letzte Satz hallte noch in meinen Ohren nach, obwohl ich nicht mehr genau sagen konnte, was der letzte Satz war. Doch jetzt fiel es mir wieder ein. „Ein Heiliger bereitetet mich darauf vor, in meinem Leben einen neuen Schritt zu gehen”. Der Heilige hatte das Mädchen dazu bewegt, dass die weitermachen würde. Dass sie ihr Leben neu und anders gestalten würde. Dass sie mit der neuen Situation zurechtkommen würde.
Das Schreiben fiel mir so einfach, denn es war so nebensächlich geworden, dass schreiben. Ich musste nicht perfekt schreiben, konnte entspannen und lachen. Innerlich lachen. Aber auch mein Gesicht entspannte sich. Ich genoss die Stille im Raum, das unregelmäßige Atmen von Clara. Mal laut, dann leise.
Das Mädchen hatte natürlich nie einen Heiligen gesehen. Einen Heiligen, der ihr sagte, dass ihr Vater tot sei. Viel mehr war es eine „Selffulfilling Prophecy”, wie es uns die Psychologie erklärte. Vielleicht hatte das nun 15-jährige Mädchen gehört, dass es in der Gegend, in der ihr Vater war, gerade sehr viele Schusswechsel oder sonst etwas gegeben hätte. Dies hatte sie dann kombiniert und so einen eigenen Traum erschaffen. Einen Traum, der sie schützen sollte. Einen Traum, der ihr helfen sollte zu verarbeiten. Sie träumte, verstand erst später, was der angebliche Heilige gesagt hatte. Aber sie verstand es.
Die Kerze brannte neben mir und spendete mir Trost und Licht und Geborgenheit. Ich liebte Kerzen, liebte den Schein von ihnen, das wohlige Licht! Ich wollte eintauchen in die Kerze und mir einen Schein verleihen. Wollte die Hitze spüren, wenigstens ein bisschen. Wie in der Sauna, bei einem richtig schönen Aufguss. Da war man nämlich bestenfalls drinnen, konnte nicht weg, viele Menschen um einen. Hauptsächlich alte Männer, die sicherlich nicht für oder wegen dir aufstanden. Da kam man dann richtig ins Schwitzen. Die Männer schrien Aufguss und schrien mehr und schrien heißer. Und du lächelst nur. Die Hitze kommt wie ein Faustschlag in dein Gesicht. Kurzzeitig denkst du: „Dass überlebst du nicht.” Dein Körper hat schon auf diese Du-Ebenen geschalten. Du sprichst dich selbst mit „Du” an. Du musst das und das tun. Du sollst dahin schauen. Dies ist dein letzter Atemzug. Atmen hilft. Flach atmen. Und ein bisschen wegsehen. Wegsehen von der Hitze. Nicht direkt in den Wirbel hinein.
Schlussendlich überlebst du die Hitze, denn eigentlich war sie gar nicht so schlimm. Wenn du wirklich am Sterben gewesen wärst, hättest du die Sauna ja auch einfach verlassen können. Hast du aber nicht. Also.
Nun bist du heiß und entspannt und dein Körper ist ein kleines bisschen abgehärteter. Für einen Moment. Das vergeht wieder. Der Alltag ist am Rennen. Überholt einen irgendwann immer. Die Entropie, so heißt es doch, dass Streben der Dinge nach der größtmöglichen Unordnung. Diese Kraft, die gegen einen arbeitet. Böse ist sie, eine böse Kraft, die dich immer und immer und immer wieder herausfordern möchte. Entropie, die Unordnung in den Dingen. Ordnet sich unordentlich wieder an.
Ich war alt, älter, 21 oder 22, als ich anfing, meiner toten Oma und meinen beiden toten Opas Briefe zu schreiben. Briefe ist vielleicht zu viel gesagt. Einen Brief. Nicht viel. An ihrem Todestag dachte ich, dass es eine gute Idee wäre, ihnen Briefe zu schreiben. Einen Brief. Sie waren zwar tot und kitschig oder komisch wollte ich nicht sein, aber nett wollte ich sein. Oder weniger nett, eigentlich wollte ich es für mich machen. Meine Psyche. Loswerden, was in mir feststeckte. Mich nicht mehr losließ. Mich reizte, nervte. Ich wollte sie so viel fragen, doch wusste nicht, wie? So kam ich mit mir selber klar und hatte einen Anlass, um zu schreiben. Ich liebe schreiben, wollte fast „liebte” schreiben. Als ob es vergangen wäre. Ich werde immer schreiben lieben. Nie wird es vergangen sein. Das wird nicht vergehen.
Wenn ich etwas an meiner Hand hätte, nicht mehr tippen könnte, es wäre furchtbar. So eine Entzündung oder Amputation oder Infektion. So was mag ich mir gar nicht ausmalen. Ich würde wahrscheinlich weiterschreiben. Dann würde ich halt jemanden einstellen, der mir meine Worte umstrukturiert. In meinem Sinne. Oder eine Freundin fragen. Irgendjemand würde sich da schon bereit erklären. Spracheingabeprogramm gibt es zum Glück auch noch. Ich würde überleben. Und vielleicht als der eine Autor, der selbst nicht tippen kann, in die Geschichte, oh ja!
Meine Oma hatte dieses Fenster, das Fenster im Badezimmer. Eigentlich wollte ich Klo schreiben, das Fenster im Klo. Es war Omas Badezimmer, aber für mich hatte dieser Raum nur die Funktion eines Klos. Immer, wenn ich bei ihr war, ging ich nicht duschen oder legte mich in die Badewanne. Ist ja klar. War ja nicht meines. Ich öffnete das Fenster, zumindest in meinem Kopf, und sah hinaus in das saftige Grün. Zuvor, ich weiß nicht, was davor gewesen war. Ich glaube hohe, alte Bäume. Tannen, denke ich. Bis nahe an das Haus ran. Doch dann der Immobilienhai, der große, hatte was anderes vor. Er war verwandt, kennt meine Oma ja, und sie ihn. Kontakte muss man pflegen.
Dem hat alles gehört, fast alles. Er gab sich nicht spendabel, reich war er nicht, aber Geld hatte er schon wie Heu. Will man halt nicht zeigen. Will er halt behalten, gierig wahrscheinlich, denke ich mir. Er hat ein neues Bürogebäude gemacht. Den alten Kiosk weg, die Weinlaube oder Gartenhütte oder was es war auch. Neu aufgezogen, moderner Umbau. Nicht alles Neue ist schlecht. Vielleicht auch Gedanken, mit denen ich mich anfreunden müsste. Ich, der ich eigentlich jung und frisch bin, jugendlich. Aber das habe ich ja schon oft gehört, dass ich ein komischer Jugendlicher sei. Ein altbackener. Ein konservativer. Also gesagt hat man es mir wenige Male so offen, aber zwischen den Zeilen habe ich es so erkannt. Bin ja nicht blöd. Aber konservativ! Das bin ich schon gar nicht!!! Eine Ehrenbeleidigung. Gegen die Konservativen werde ich wahrscheinlich mein ganzes Leben lang kämpfen, ich sehe es schon vor mir. Also ein bisschen verstehe ich schon, gute Dinge bewahren und so. Die Liquidität bewahren vom Staat. Aber nur altbacken sein, um des Altbacken-Sein-Willens. Prinzipiell „Nein” sagen ist ja blöd!
Zurück zum Garten. Der ist schön. Ruhig bepflanzt mit echten Pflanzen, kein Plastik. Ein System dahinter, der Rasen getrimmt. Wenn ich bei Oma bin, sitzt nie jemand im Nachbarsgarten. Wäre auch unangenehm, die könnten ja direkt ins Badezimmer blicken.
So sitzt nie jemand dort, aber der Rasen ist gepflegt. Kurz getrimmt, geschnitten, englischer Rasen. Ganz schlecht für die Artenvielfalt, die Bienen haben nix zum Fressen, aber schön ist er. Wie aus einem Prospekt. Aber auch Kunst gibt es darin. Kunst im Garten. Skulpturen und Statuen. Baumstümpfe, natürlich verziert, schon geschnitzt. Die Frau des Immobilienhaies ist eine Esoterikerin. Spürt die Energie der alten Bäume, dass ich nicht lache. Sie war schon traurig, dass die schönen großen Bäume wegkamen. Wollte sie eigentlich nicht.
Darum noch was Produktives, Kreatives mit ihnen gemacht. Eine Heldin, wenn sie mich fragen.
Scherz beiseite. Bin schon froh über Kunstliebhaber*innen, auch über reiche. Kann ja für den Mann nichts dafür, oder? Jeder muss irgendwie überleben. Verstehe ich schon. Und wenn die Liebe passt und dann noch das Geld, ich hätte gleich gehandelt. Und der Garten ist echt schön. Also ich beschwer mich nicht. Besser als ein Wohnhaus mit vielen Menschen. Menschen sind ja Gute, sind ja Mitmenschen, Schwestern und Brüder. Menschen sind ja vernunftbegabte Wesen, aber zu viele Menschen. Da ist immer einer oder eine dabei, die sind richtig laut und nervig! Weißt wie schlimm. Wenn ich aus dem Klo, also aus dem Klofenster schauen würde, und da eine Hauswand wäre. Schlimm!!
Der Text von Tobias March ist im Schreibworkshop „Writer’s Class“ mit Gerda Sengstbratl entstanden.