Schmet­ter­linge im Bauch

Ein Text von Sandra Wolf

Elise wirft einen kurzen Blick durch das Café. Nur mehr zwei Plätze sind frei. Überall junge Menschen. Alle mindes­tens fünf­zehn Jahre jünger als sie. Elise hat nicht vor einen Coffee to go zu kaufen. Sie muss hier länger bleiben.
Ein junges Mädchen vor ihr bezahlt mit einer Kredit­karte. Etwas in ihrem Bauch regt sich.
»Was darf es sein?« Der Barista sieht sie freund­lich an.
Elisa öffnet den Mund. Ein Schmet­ter­ling flat­tert heraus und sinkt dann tot zu Boden. Ein paar Tränen lösen sich aus ihren Augen. Der Barista sagt nichts.

»Das ist nicht leicht«, sagt eine ältere Stimme hinter ihr. »So erging es mir auch, als mein Mann starb.«

Wäre er nur tot, denkt Elisa, aber Thorsten ist nicht tot. Er ist viel zu lebendig. So lebendig, dass er ihr immer noch wehtun kann.
Der Barista starrt sie an. Elisa schluckt und versucht es noch einmal. Sie braucht die Zeit hier in ihrem Lieb­lings­café. Ein Cappuc­cino – das ist alles, was sie im Moment benö­tigt. Danach wird es ihr besser gehen. Sie öffnet den Mund. Ein Schwall bunter Schmet­ter­linge verlässt ihren Körper. Die Schmet­ter­linge flat­tern in die Höhe. Ihre Flügel werden grau und dann schwarz. Einer nach dem anderen sinkt tot zu Boden. Sie schlägt ihre Hand vor den Mund.

Sie hat von ihnen gehört. Den Menschen, die keine Schmet­ter­linge mehr im Bauch haben. Sie hat ihre Gesichter gesehen. Ihre Wut. Ihre Verzweif­lung. Das Ende der Liebe. Wenn der letzte Schmet­ter­ling im Bauch gestorben ist, dann kann man sich nie wieder verlieben. Ihre Nach­barin ist eine von den Unglück­li­chen. Mit gesenktem Kopf geht sie in die Arbeit und kommt am Abend mit hängenden Schul­tern wieder heim. Ihr Mann hat sie nach sieb­zehn Ehejahren verlassen.

Elise blickt sich um. Am runden Tisch sitzen Jugend­liche, um gemeinsam zu lernen. Ein paar einsame Seelen wenden ihr den Rücken zu und lassen ihre Finger über die Tasta­turen ihrer Laptops gleiten. Der Rest sind glück­liche Pärchen. Die Musik ist heute nicht nach ihrem Geschmack. Sie bevor­zugt Klavier­stücke oder Balladen. Elisa dreht sich wieder zur Theke um. Der Barista wartet immer noch auf ihre Antwort.

Die Schmet­ter­linge in ihrem Mund drängen nach draußen. Panisch presst sie ihre Lippen aufein­ander und versucht zu lächeln. Viel­leicht kann sie ihre Bestel­lung aufschreiben. Sie braucht diesen Kaffee. Die Schmet­ter­linge in ihrem Mund prallen gegen ihre Lippen. Sie beginnt zu kauen und schluckt die bittere Masse hinunter.

Sie war nicht das erste Mal verliebt gewesen. Am Ende jeder Bezie­hung starb eine Unzahl an Schmet­ter­lingen. Sie machte sich keine Sorgen. Sie war noch jung. Nun ist sie fünf­und­vierzig. Wenn sie die Schmet­ter­linge in ihrem Bauch raus­lässt, war es das. Seit Monaten sind keine neuen mehr geschlüpft. Kein Schmet­ter­ling hat Eier in ihr gelegt, keine Raupen haben sich an den Essens­resten satt­ge­fressen und anschlie­ßend verpuppt. Thorsten hat versucht, die letzten Schmet­ter­linge in ihr zu töten. Wenige Minuten haben dafür ausgereicht.

Die Menschen hinter ihr werden unruhig. Elise zeigt auf die Tafel. Mit einem Eiskaffee, den sie nicht bestellen wollte, setzt sie sich an den einzigen freien Tisch. Vorsichtig steckt sie den Stroh­halm in den Mund und trinkt. Wieder drängen die Schmet­ter­linge nach draußen. Sie schluckt sie hinunter.
Wie viele noch in ihr drinnen sein mögen? Gestern Nach­mittag hat sie unzäh­lige ausge­spuckt. Alle nach wenigen Sekunden tot. Und dann ist sie gegangen. Soll Thorsten doch den Dreck wegma­chen. Er und seine neue Freundin, mit der er sich vergnügte, als Elise nach­hause gekommen war.
Sie versucht noch einen Schluck, nimmt das Buch aus ihrer Tasche und schlägt es auf. Mehrere Minuten liest sie, ohne etwas von der Geschichte mitzu­be­kommen. Der Alptraum von letzter Nacht lässt sie nicht los. In ihrem Bauch sind die Schmet­ter­linge nicht gestorben. Im Traum haben sie sich von innen nach außen gefressen. Dann hat Thors­tens Neue ihren Mund geöffnet und die Schmet­ter­linge flogen hinein. Die Neue hat ihre Schmet­ter­linge gestohlen.

»Darf ich mich zu dir setzen?«
Elise blickt auf. Vor ihr steht ein Mann in ihrem Alter und lächelt sie an. Sie nickt zaghaft.
Der Unbe­kannte rückt den Stuhl zurecht. »Es tut mir leid.«
Ihr wird heiß. Wenn sie gewusst hätte, dass sie so ein Aufsehen erregt, wäre sie nicht in ihr Lieb­lings­café gekommen. Thorsten hat ihre Leiden­schaft für dieses Café nie geteilt. Das hätte ihr eine Warnung sein sollen.
»Ich kann dir helfen.« Seine Stimme ist sanft, fast liebe­voll.
Wie?, will Elise fragen.
»Ich habe keine Schmet­ter­linge mehr in meinem Bauch. Es ist gestern passiert. Sie hat mir einen Zettel hinter­lassen. Sie hat einen Neuen. Lukas. Ich glaube sie hat geschrieben, er heißt Lukas.«
Der Mann nimmt ihre Hand und streicht sanft darüber. Elise zieht ihre Hand weg. Er ist hübsch. Sie hätte nie so einen Mann für einen anderen verlassen.
»Wir müssen uns beeilen. Ich bin mir nicht sicher, ob es wirk­lich funk­tio­niert. Ich habe es nur gelesen.«
Wieder nimmt er ihre Hand. Er lächelt. Sie kann nicht anders als zurück­zu­lä­cheln.
»Ich habe gelesen, wenn man sich verliebt, bevor alle Schmet­ter­linge tot sind, dann muss es nicht vorbei sein.«
Elise sieht ihn an. Aus ihrer Tasche nimmt sie einen Stift, krit­zelt ein paar Worte auf eine Papier­ser­vi­ette.
»Ich habe die letzten sieben Schmet­ter­linge einge­fangen. Sie mögen Alkohol. Ich habe sie zuhause in einer halben Wein­fla­sche. Ich muss sie nur runter­schlu­cken. Bitte, lass es uns versu­chen.«
Elise krit­zelt ein weiteres Wort auf die Servi­ette und schiebt sie in seine Rich­tung.
Der Unbe­kannte lächelt. Elise spürt wie die wenigen Schmet­ter­linge in ihr zu tanzen beginnen und der Rest aus ihrem Mund sich dazugesellt.

 

Der Text ist im Rahmen des Work­shops „schau­er­lich & fantas­tisch“ bei Britta Mühl­bauer entstanden.