Wo bitte ist die Mitte Europas?

Ein Text von Cornelia Stahl

Vor gefühlten zehn Jahren veror­tete ein polni­scher Doku­men­tar­filmer in seinem Film die „Mitte Europas“. Ein span­nendes Unter­nehmen, wie ich fand, welches ich irgend­wann später wieder­holt aufgreifen wollte, es aus Zeit­gründen jedoch nie tat.

Welches Lebens­ge­fühl entfaltet sich in der Mitte Europas? Dieser Frage wollte ich nachgehen.

Sobald du nur einen Fuß auf den teils lehmigen, teils sandigen Grund setzt, fühlst du dich geerdet. Du bist an einem Ort, den man als Mitte Europas beti­telt, vorab vermessen, ausge­messen, geortet, verortet – Koor­di­naten fixiert. Ist es vermessen zu behaupten, in der Provinz ange­kommen zu sein?

Du lässt dir den leichten Wind­hauch um die Nase wehen, tauchst ein in eine Spirale der Ruhe und Gelas­sen­heit. Die Bilder der Schrott­la­winen an den Stra­ßen­rän­dern und Park­plätzen lässt du getrost hinter dir, denn hier empfängt dich eine andere Welt. Trak­toren tuckern über die Felder, lockern Erdmassen und pflügen Gesteins­reste unter.

Hat da jemand gerufen, der Hofnarr viel­leicht oder waren es Balz­ge­räu­sche der Störche, die auf dem letzten Braue­rei­schlot ihr Werben zur Schau stellen?

In Markt­leu­then ist alles anders. 1954 mit dem Stadt­recht bedacht, ließ es sich selbst Hilde­gard Knef nicht nehmen, in den geschichts­träch­tigen Ort zur Verlei­hung des Stadt­rechts zu reisen, nebst baye­ri­schem Ministerpräsidenten.

An ihren Film „Die Sünderin“ (1951) konnten sich die Einwohner des Städt­chens noch lebhaft erin­nern und begrüßten sie auf dem Markt­platz mit selbst­ge­zim­merten Plakaten und Trans­pa­renten. Die Katho­li­sche Kirche sah das garnicht gern und versuchte im Vorfeld eine Gegen­ver­an­stal­tung zu planen, um die Diva auszu­laden. Der Bürger­meister, um Harmonie und Frieden bedacht, konnte die Aktion in letzter Minute noch abwenden.

Seitdem ist Markt­leu­then nicht nur der saftigen Wiesen wegen bekannt, sondern auch wegen eines gestoh­lenen Leichen­wa­gens in die Schlag­zeilen geraten, von dem der Männer­chor ein Lied zu singen weiß.

Auch gegen­wärtig tritt der Männer­chor auf Sommer­festen auf und sorgt für Wohl­be­finden und Heimat­ge­fühl, selbst wenn die Panker durch die Straßen ziehn und auf den Feldern Hanf statt Gerste blüht.

Das Fich­tel­ge­birge, zwischen Deutsch­land und Tsche­chien, der Fluss Eger, der bis ins Nach­bar­land fließt und einem tsche­chi­schen Ort seinen Namen verlieh, verzau­bert Natur­lieb­haber und Venedig-Kenner nach wie vor, denn die Brücke über den Mühl­graben, wo sich auch heute noch in einer gewissen Regel­mä­ßig­keit, Liebes­paare auf ein Stell­dichein treffen und „Eins und eins, das macht zwei
Drum küss und denk’ nicht dabei“ singen, erin­nert an die wunder­schöne Lagu­nen­stadt, in der alles begann, oder manchmal auch endete.

Mit dem Bau des Viadukts über das Egertal außer­halb des Ortes, begann damals mit der ersten Eisen­bahn von Nürn­berg nach Fürth das Indus­trie­zeit­alter. Robert Stephenson, der das Fabrikat konstru­iert hatte, kam zur „Schau­fahrt“ persön­lich von Brüssel nach Markt­leu­tehen, winkte mit seinem Zylinder und verbeugte sich elegant vor dem stau­nenden Publikum.

Du schaust hinauf zur Brücke und hörst das Schnaufen der Loko­mo­tive, atmest den Geruch des Dampfes ein, der aus dem spei­enden Gefährt gestoßen wird und den Himmel augen­blick­lich verdun­kelt. Du siehst das von Ruß verschmierte Gesicht des Lokfüh­rers von 18777, der den Koks in die Feuer­luke schiebt.

Als du später im Internet für eine Geschichte recher­chierst, entdeckst du Markt­leu­then erneut in den Schlagzeilen.

2020 hatten die Stadt­be­wohner das erste Mal in ihrem Leben einen Schwarzen gesehen. Wieder­holt gab es Span­nungen zwischen den Bewoh­nern und Vertre­tern der verschie­denen Konfes­sionen. Doch der Bürger­meister strahlte, denn mit der Ankunft des jungen, afri­ka­ni­schen Künst­lers, einem Bild­hauer, war auch der Stadt eine beträcht­liche Summe in Aussicht gestellt worden.

Im Mai 2021 eröff­nete der eigens aus Simbabwe ange­reister Künstler die erste Fich­tel­ge­birgs – Kunst – Bien­nale. In meinem Traum vernehme ich ein gleich­mä­ßiges Klopfen seiner Hammer­schläge, sehe den aus Stein erschaf­fenen Vogel vor meinen Augen. Arme wachsen mir zu Flügeln aus, ich richte mich auf. Mit Otto Lili­en­thal, dem Flug­pio­nier, besteige ich die Berg­spitze und setze an zum Sprung in die Tiefe.

 

Der Text mit einer Mischung aus fiktio­nalen und auto­fik­tio­nalen Elementen ist im Schreib­work­shop Inspi­ra­tion und Recherche bei Bettina Balàka entstanden.