Aus der Welt – Karl Ove Knausgård

Eine Rezen­sion von Barbara Rieger

Der norwe­gi­sche Autor Karl Ove Knaus­gård wurde mit seinem sechs­bän­digen auto­bio­gra­fi­schen Zyklus „Min Kamp” welt­be­rühmt und erhielt 2017 den Öster­rei­chi­schen Staats­preis für Euro­päi­sche Lite­ratur. Nun liegt auch sein bereits 1998 erschie­nener eben­falls preis­ge­krönter und – wie der Autor betont – fiktiver Debüt­roman in der deut­schen Über­set­zung von Paul Berf vor. Dieser Roman umfasst drei Teile und insge­samt über 900 sprach­lich viel­fäl­tige Seiten, auf denen verschie­denste Erfah­rungen, Erin­ne­rungen und gedank­liche Exkurse des Prot­ago­nisten Henrik geschil­dert werden. Narra­tive, dialog­las­tige Szenen wech­seln sich mit langen inneren Mono­logen und phan­tas­ti­schen Passagen ab, langsam entspinnt sich die Hand­lung und ein Psycho­gramm des Prot­ago­nisten entsteht.

Im ersten Teil des Buches befinden wir uns mit dem 26-jährigen Henrik in einem Fischer­dorf in Nord­nor­wegen. Dort arbeitet er als Aushilfs­lehrer und kämpft mit Lange­weile, Einsam­keit, verschie­densten Selbst­vor­würfen, mangelndem Zuge­hö­rig­keits­ge­fühl, mangelnder Aner­ken­nung sowie mit seinem sexu­ellen Begehren, das sich schließ­lich beson­ders auf die 13-jährige Miriam richtet. Henrik versetzt sich gedank­lich nicht nur in die Gefühls­welt Zehn­jäh­riger oder in Fische, sondern stellt sich auch seine Nach­barn und seine Schü­le­rinnen bei privaten Hand­lungen vor. Die Probleme entstehen in seinem Kopf, wenn er die Gedanken seiner Mitmen­schen vermeint­lich durch­schaut. Doch bei Miriam scheint er nicht ganz falsch zu liegen. Als sie schließ­lich eine Nacht bei ihm verbringt, flüchtet er aus dem Dorf und fährt nach Kris­ti­an­sand, wo sich seine Eltern kennen gelernt hatten.

Im zweiten, kürzeren Teil des Buches schil­dert Henrik, wie sich seine Eltern das erste Mal begeg­neten und die anschlie­ßende Familiengründung.

Auf den verblei­benden 450 Seiten wartet Henrik in Kris­ti­an­sand auf ein Wieder­sehen mit Miriam und erin­nert sich während­dessen an seine Jugend­zeit in dieser Stadt: Die Schwie­rig­keiten mit seinem trin­kenden Vater, der sich nicht um ihn bemühte. Die Liebe seiner Mutter, die ihn beschämte. Der ältere Bruder, der sich nicht beson­ders für ihn inter­es­sierte. Lehrer, deren Unter­stüt­zungs­an­ge­bote er als Demü­ti­gung empfand. Mitschüler, an die er keinen Anschluss finden konnte und die sich über ihn lustig machen. Und nicht zuletzt sein immer krank­hafter werdendes Verhältnis zu Mädchen. Der junge Henrik fühlt sich seinem Begehren hilflos ausge­lie­fert, es kann zu keiner Erfül­lung führen und ist nahe am Hass angesiedelt.

Ob es in der sechs­jäh­rigen Studi­en­zeit in Bergen anders gear­tete, reifere Begeg­nungen gab, wird in dem Roman ausge­spart, scheint aber unwahr­schein­lich. Viel­leicht ist die 13-jährige Miriam die erste und einzige, die positiv auf Henriks Avancen reagiert und ihn nicht zurück­weist? So verwun­dert es nicht, dass jemand wie Henrik sich nimmt, was er kriegen kann. Wenn er damit hadert, dann weniger aus mora­li­schen oder ethi­schen Gründen, sondern weil er letzt­lich auch die Tatsache, dass er sich als 26-jähriger in eine 13-jährige verliebt, als narziss­ti­sche Krän­kung empfindet.

Henrik ist ein Spanner, ein Stalker, der sich gedank­lich über seine Mitmen­schen erheben und diese entwerten muss. Obwohl ihm das bis zu einem gewissen Grad bewusst ist, löst er bei mir als Leserin keine Sympa­thie, kein Mitleid, sondern nur Ekel aus. Respekt entsteht aller­dings für den Autor, der es schafft, mein Inter­esse über 900 Seiten fast durch­gängig zu halten, auch oder gerade in den seiten­langen Exkursen, die manchmal nur am Rande etwas mit der Geschichte des Prot­ago­nisten zu tun haben.

Der Lektor soll angeb­lich versucht haben, den einen oder anderen dieser Exkurse zu strei­chen. Viel­leicht hätte er statt­dessen ein paar Mal das Wort „schmal” strei­chen sollen, das der 13-jährigen Miriam wieder­holt und an allen mögli­chen Stellen ihres Körpers zuge­schrieben wird. Doch viel­leicht gehört auch das zu Recht in den Text, als Teil des sexua­li­sie­renden, abwer­tenden, männ­li­chen Blicks auf den kind­lich-weib­li­chen Körper?

 

Barbara Rieger, März 2021
Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Karl Ove Knaus­gård: Aus der Welt
Aus dem Norwe­gi­schen von Paul Berf
Origi­nal­titel: Ute av verden, 1998
Luch­ter­hand, 2020
928 Seiten
26,80 EURO
ISBN: 978–3‑630–87437‑1

 

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