Blutbuch – Kim de l‘Horizon
Eine Rezension von Tobias March
Ein Buch ohne Beginn und ohne Ende, ein Buch, dass man eigentlich nicht rezensieren kann. Die Erzählfigur in „Blutbuch“ identifiziert sich, wie auch die Autor*in Kim de l‘Horizon weder als Mann noch als Frau. Mit einer neuen Form des Schreibens, mit der ecriture fluid wird mal rasend schnell, mal langsam und gedehnt erzählt, wie es ist, körperlos zu sein. Mit dem eigenen Körper unzufrieden vögelt sich die*der Protagonist*in durchs Leben, Pfleger, Gärtner, Reinigungspersonal. Wann immer Probleme aufkommen, ist Sex keine Lösung, aber ein Versuch, sich selbst zu spüren und wahrzunehmen. Den Hass auf sich selber ein bisschen zu vergessen.
„Ich wollte dir meine konstante Angst vor meinem Körper erzählen. Mit dem schrecklichsten Monster unterm Bett unter einer Decke zu stecken. Nur ist das keine Decke, sondern meine Haut. Eine Angst, wie wenn mensch in einer lotterigen Hütte lebt und ein Sturm kommt.“ (S.184)
Neben diesen Geschichten, die die Leser*innen mit offenen Mündern zurücklassen und die Handlung rasant weitertreiben, wird auch die Geschichte der Blutbuche erzählt. Wo kommt der Baum mit den feuerroten Blättern her? Warum hat der Urgrosspeer (=Urgroßvater) diesen Baum gepflanzt? Außerdem wird erzählt, wie sich die heutigen Gärten entwickelt haben.
Kim de l‘Horizion schafft es, dass Körper und Baum zu einer Person verschwimmen und man sich fragt, wo eine Person endet und wo sie anfängt.
Das Buch stellt auch die Frage nach unserer Verwurzelung, nach unserer Familie. Warum muss die Erzählfigur mit so schrecklichen Frauenfiguren im Leben klarkommen? Meer (=Mutter) und Grossmeer (=Großmutter) werden eiskalt und abweisend beschrieben, doch dann muss die Demente ins Altersheim und der einzige Weg der Erzählperson, mit dieser Situation klarzukommen, ist, neben ihr zu sitzen und ihr zu schreiben, was nicht mehr gesagt werden kann. Ein Buch über Sich-Trauen und Vertrauen. Über Familie und Familienkörper. Über Queerness und über Rollenvorbilder.
Aufrührend, schockierend, fesselnd, berührend, spektakulär. Lesen Sie dieses Buch. Es wird Ihnen den Atem verschlagen und Sie noch lange fassungslos zurücklassen!
Kim de l’Horizon wurde für dieses Buch mit dem Deutschen Buchpreis 2022 und dem Schweizer Buchpreis 2022 ausgezeichnet.
Tobias March, im Oktober 2023
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Kim de l‘Horizon: Blutbuch
Köln: DuMont Buchverlag 2022
336 Seiten
24 EUR
ISBN: 978–3‑8321–8208‑3
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