Wien, Schwedenplatz polyphon – Lukas Cejpek und Margret Kreidl (Hrsg.)
Eine Rezension von Brigitta Höpler
An drei Tagen im Oktober 1947 notiert der Schriftsteller George Perec am Pariser Platz St. Sulpice alles, „was man im Allgemeinen nicht notiert, das, was nicht bemerkt wird, was keine Bedeutung hat, das, was passiert, wenn nichts passiert, außer Zeit, Menschen, Autos und Wolken“. Herausgekommen ist der Text „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“.
2023 laden Margret Kreidl und Lukas Cejpekt 106 Autor*innen ein, über den Wiener Schwedenplatz zu schreiben. Auf Wikipedia ist zu lesen, dass der Platz zum Dank für die schwedische Hilfe nach dem Ersten Weltkrieg so benannt wurde und eine Erweiterung des hier verlaufenden Franz-Josefs-Kai darstellt“. Ob diese „Erweiterung“ wirklich ein Platz ist, bleibt die Frage, auch im vorliegenden Band. So schreibt etwa Udo Kawasser in seinem Beitrag, „dass sich der Schwedenplatz nicht entscheiden kann, ob er unterirdisch oder oberirdisch ist. Das liegt wohl am fehlenden Platz“.
Weniger Platz als Konglomerat aus Morzinplatz, Franz-Josefs-Kai und Schwedenplatz: eine Collage aus unterschiedlichen Zeiten, Bedürfnissen und Ereignissen ist dieser Stadtraum. Ort kollektiver Erinnerungen an die Gestapo-Zentrale im Hotel Metropol, an den Terroranschlag am 2. November 2020. Andere Erinnerungen werden in gleich mehreren Texten geteilt, an das berühmt-berüchtigte Espresso am Schwedenplatz und den Eissalon. „Imbisse kommen und gehen, auf den Eissalon ist Verlass“ meint Elena Messner.
Der Untertitel des Bands „polyphon“ ist Programm: Vielstimmigkeit in Inhalt und Form, im Versuch, einen komplexen Ort, für manche ein Unort, schreibend zu erfassen und zu schärfen.
Auch wenn – oder gerade weil – sich „Schwedenplatz polyphon“ laut Klappentext „abseits der Reiseführerrhetorik“ versteht, macht das Buch doch große Lust, sich auf den Weg zu machen und „vor Ort“ weiterzulesen. Sich irgendwo zwischen Eisgeschäft, Kebab, Mc Donalds, Happy Noodles, Aufgängen, Abgängen, Straßenbahnstationen, versifften Rasenflächen … einen Platz zu suchen. Verweilen, lesen, schauen, ein- und wieder auftauchen. Die Perspektive wechseln, mit dem Harlekin auf dem Wandmosaik des Hauses Hafnersteig 5, der „den Blick schweifen lässt über die Jahrhunderte hinweg zu den Töpfern und Ofenbauerinnen, die vom verwachsenen Ufer des Donauarms über die Böschung Richtung Stadtmauer ziehen“ (Eva Schörkhuber).
Ein vielstimmiges, anregendes Stadtbuch unterschiedlicher Blicke, Wahrnehmungen, Perspektiven, Erzählweisen, Textsorten.
Brigitta Höpler, im November 2023
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Lukas Cejpek, Margret Kreidl (Hrsg.)
Sonderzahl Verlag: Wien 2023
116 Seiten
20 EUR
ISBN 978–3‑85449–624‑3
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