Das Philo­so­phen­schiff – Michael Köhlmeier

Eine Rezen­sion von Tobias March

So viele gute und wahre Sätze stehen in diesem neuesten Roman von Michael Köhl­meier, dass ich mich nicht für einen Einlei­te­satz für die Rezen­sion entscheiden konnte. „Was ist Wahr­heit … Die Wahr­heit ist die Erin­ne­rung an sie.“ (S. 141) „Die Vernünf­tigen haben oft das Gefühl, ihnen platzt der Kopf.“ (S. 132)

In „Das Philo­so­phen­schiff“ fahren die hundert­jäh­rige Archi­tektin Anouk Perleman-Jacob und der Schrift­steller Köhl­meier auf die Weiten des Finni­schen Meer­bu­sens hinaus, um zu erzählen: Vom Leben der damals neun­jäh­rigen Anouk in Sankt Peters­burg und ihrer Depor­ta­tion ins Exil. Auf Lenins Befehl hin müssen Mama, Papa sowie Anouk auf das Schiff, um ihre Heimat zu verlassen. „Es sei ein Entge­gen­kommen der Regie­rung. Eine Art Gnade der Regie­rung.“ (S. 40) „Wer hat befohlen, dass ihr Russ­land verlassen müsst, fragte er. Ich sagte: Der Lenin hat es befohlen.“ (S. 156) In ein neues, fremdes Land, in dem sie niemand leiden kann und in dem sie die Sprache nicht spre­chen können.
„Es war Bürger­krieg. Und ein Bürger­krieg ist immer auch ein Krieg der Armen und Unge­bil­deten, der Dummen und Bösar­tigen gegen die Intel­li­gen­zija. Zur Intel­li­gen­zija gehörte, wer nicht schwitzte, nicht stank und seine Arbeit im Sitzen tat. Das traf auf meine Eltern zu.“ (Seite. 13)
Das Leben der Familie und ihr Exil in Paris und später in Berlin wird in der Retro­spek­tive der nunmehr 100-jährigen Anouk erzählt. In Wien lebend lädt die Star­ar­chi­tektin den Schrift­steller zu ihrem runden Geburtstag ein. Ihm flüs­tert sie dann geheim­nis­voll zu: „Ich erwarte sie morgen Nach­mittag um drei in meinem Haus in Hiet­zing.“ (vgl. S. 9) Einem Schrift­steller wie Köhl­meier könne man getrost erzählen, wie es wirk­lich gewesen ist in der Sowjet­union, wie die Tscheka, die Geheim­po­lizei und die Spio­nage waren, wie die Angst vor dem anderen, der ja Spion sein könnte, irra­tional, verrä­te­risch, grausam und der allge­gen­wärtig war. Er würde ein Buch darüber machen, und doch würde keiner die Geschichte glauben. Der Autor Köhl­meier spielt damit, Fiktion und Wirk­lich­keit mitein­ander zu vermischen.

Köhl­meier schil­dert die Gebrech­lich­keit und das Alter von Anouk, ihren Ziga­ret­ten­konsum, ihre Essens­ver­wei­ge­rung, ihre Eigen­arten und ihre Mensch­lich­keit so genau, sodass es den Eindruck erweckt, beim Lesen sitzt man der Frau direkt gegen­über – tief hinein­ge­drückt in ihren weichen, viel zu großen Pols­ter­möbel. Man muss ihr einfach zuhören und man wünscht sich, dass die Geschichte nie enden möge. Dass sie weiter­erzählt, wie das so war mit der ersten Liebe, getötet vom Staats­ap­parat. Dass sie weiter­erzählt von den Eltern, die nicht alles mitteilen und doch einiges aussagen mit ihrem Nicht-richtig-Ankommen im Exil und ihrem gemein­samen Selbst­mord in Berlin.

Und vor allem möchte man als Leser:in, dass Anouk mehr davon erzählt, wie es war, Lenin auf ihrem Depor­ta­ti­ons­schiff auf Deck 1 vorzu­finden und mit ihm zu spre­chen, mit diesem alten, gebrech­li­chen Mann, der gar nicht so furchtbar ist, wie man sich einen Diktator vorstellt. „Bewacht werden musste er nicht. Er saß im Roll­stuhl und konnte sich nur wenig bewegen.“ (S. 135) „Es war Lenin.“ (S. 136)
Das Buch ist wirk­lich lesenswert.

 

Tobias March , im April 2024

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Michael Köhl­meier: Das Philo­so­phen­schiff
Hanser: München 2024
224 Seiten
24,70 EUR
ISBN: 978–3‑446–27942‑1

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