Wir hätten uns alles gesagt – Judith Hermann
Eine Rezension von Cornelia Stahl
Am eigenen Leben entlang schreiben
Die Frankfurter Poetikvorlesung, die Judith Hermann 2022 an der Goethe-Universität Frankfurt/Main hielt, bildete die Grundlage für vorliegendes Buch. Im Untertitel „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“ verweist Hermann auf das Unvorhersehbare im Schreibprozess: „Auf dem Weg von ihrem Anfang bis zum Ende hin ist unerwartet Privates im Text aufgetaucht“, S.7.
Hermann unterteilt ihre Poetikvorlesung in drei Abschnitte: Im ersten Teil thematisiert sie die Begegnung mit dem Psychoanalytiker Dr. Drehüs, im zweiten Teil erzählt sie vom Familienleben. Und im dritten Abschnitt widmet sie sich primär der Reflexion von Schreibprozessen.
Das Zusammentreffen mit ihrem Analytiker nach Abschluss der Psychoanalyse löst in Hermann ein Nachdenken über Erzähltes und Gesagtes aus. Sein Brief fügt weitere Gedanken hinzu:
alles so geschickt zu verfremden, zu entstellen,
dass am Ende nichts mehr richtig ist, aber alles wahr.
Judith Hermann schreibt am eigenen Leben entlang. In einem Interview betont sie, dass Ich-Erzählerin und Autorin nicht identisch sind.
Im zweiten Teil konzentriert sich Hermann auf Familiengeschichten und den Umgang mit Träumen:
Ich träume nicht, weil ich ohnehin (…) damit beschäftigt bin, die Dinge zu verbergen, sie mir vom Leib zu halten. Oder (…) vielleicht träume ich nicht, weil ich schreibe. S. 68
Im Abschlusskapitel richtet Hermann den Fokus auf Schreibprozesse, insbesondere den Beginn von Geschichten:
wenn ich eine Geschichte aufmache, ist sie jedenfalls vorbei. (…) wenn sie das, was ich zu wissen meine, berichtet hat (…) interessiert sie mich dann nicht mehr.
Interessant an Hermanns Poetikvorlesung fand ich den Verweis auf das Unvorhersehbare in Schreibprozessen. Privates tauchte plötzlich in ihren Texten auf, obwohl es von ihr nicht intendiert war. Manchmal setzt die Autorin jedoch bewusst Leerstellen, um etwas zu verdeutlichen. An anderer Stelle markiert sie Unbewusstes oder bewusst Ausgespartes, Verheimlichtes.
Ein sehr persönliches Buch, das ich allen Schreibenden empfehle!
Cornelia Stahl, im April 2024
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich.
Judith Hermann: Wir hätten uns alles gesagt.
Frankfurt/Main: S. Fischer Verlag, 2023
192 Seiten.
24,50 EURO
ISBN: 978–3‑10–397510‑9
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