Die Frau im Atelier – Elke Steiner

Eine Rezen­sion von Britta Mühlbauer

Marius ist ein Künstler mit zahl­rei­chen Obses­sionen und einer Miss­bil­dung, die er unter einer Mütze verbirgt. Er malt Bilder, deren beherr­schende Farbe ein Dunkel­gold ist, das nur er mischen kann. Es handelt sich um Abbil­dungen ein und derselben Frau namens Adele, die nie von vorne gezeigt wird. Wer diese Adele ist und warum Marius sie so besessen malen muss, obwohl ihm das körper­liche Schmerzen bereitet, ist eine der Fragen, die den Text so span­nend machen.

Ein Gale­rist, der eine Ausstel­lung der Adele-Bilder plant, setzt Marius unter Druck: Er will möglichst bald noch weitere Bilder haben. Marius schwankt zwischen Taten­drang und Schaf­fens­krise. Immer wieder hemmt ihn der Schmerz der Erin­ne­rung an Adele.

Frauen finden Marius inter­es­sant, seine eisblauen Augen, die langen schwarzen Haaren, die coole Mütze. Über Art und Ausmaß seiner Miss­bil­dung lässt er sie – und die Autorin die Leser:innen – lange im Unklaren. Manche Frauen, die sich mit Marius einlassen, nehmen Reißaus, sobald er seine Mütze abnimmt.

Die Miss­bil­dung über­schattet nicht nur Marius‘ Gegen­wart sondern auch die Erin­ne­rung an seine behü­tete Kind­heit. Sie ist verbunden mit Angst, Scham, Schmerz, Tod und Schuldgefühlen.

Marius ist menschen­scheu. Seine verwahr­loste Atelier­woh­nung verlässt er nur, um im türki­schen Super­markt um die Ecke einzu­kaufen oder sich in Wanjas Bar zu betrinken. Wanja, über­ge­wich­tiger Russe mit Vorliebe für Stra­winsky, Tschai­kowski, Rach­ma­ninoff, umsorgt Marius, weiß, wann er etwas zu essen braucht und wann er genug Gin getrunken hat.
In Wanjas Bar taucht eines Tages eine Unbe­kannte namens Colette auf. Sie okku­piert erst Marius‘ Tisch und schließ­lich eine Ecke in seinem Atelier. Sie scheint auf der Flucht, wartet auf Geld, will sich so bald wie möglich nach Spanien absetzen. Obwohl Marius mit sich über­ein­ge­kommen ist, dass das Kapitel Frauen für ihn abge­schlossen ist, entspinnt sich zwischen ihm und Colette eine zarte Liebesgeschichte.

Elke Stei­ners Roman spielt buch­stäb­lich mit allen Sinnen. Farb­pig­ment glänzt und schim­mert; ungrun­dierte Lein­wand tönt anders als grun­dierte; Eitem­pera riecht nach Biskuit; es werden Watruschki, Soljanka, Borschtsch und türki­sche Dosen­ge­richte gegessen; es werden Haare geflochten, behutsam, schwei­gend. Sie schlingen sich inein­ander wie das Leben von Marius und Colette.

Selbst­ver­ständ­lich stellt sich erst am Ende heraus, ob es Marius gelingen wird, sich seinen schmerz­vollen Erin­ne­rungen und seinen Schuld­ge­fühlen zu stellen, und ob auch Colette am Ende vor ihm zurück­schre­cken wird. Eine ebenso span­nende wie berüh­rende Lektüre.

 

Britta Mühl­bauer, November 2021

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Elke Steiner: Die Frau im Atelier
Graz: edition keiper 2021
176 Seiten
20 EUR
ISBN 978–3‑903322–39‑4

 

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