Erbsenzählen – Gertraud Klemm
Eine Buchrezension von Martina Bachtrögler
Die Endzwanzigerin Annika hat ihren Job als Physiotherapeutin aufgegeben, ihr Kunstgeschichtsstudium mehr oder weniger geschmissen und arbeitet im Namenlos als Kellnerin, bis ihr etwas Besseres einfällt“. Sie ist liiert mit dem doppelt so alten Alfred, einem erfolgreichen Kulturredakteur mit „Waldhonigstimme“. Für dessen 13-jährigen Sohn ist sie die „Stief-Tussi“. Alfred und auch dessen Ex-Frau teilen ihr Rollen zu, in die sie nicht hineinfindet, nicht hineinfinden will. Sie nimmt sie dennoch an und spielt diese, weil sie selbst nicht weiß, wo ihr Platz ist und wie dieser aussehen könnte. Während ihrer Suche reflektiert sie sich durch ihre Beziehungen, ihre Familie, ihre Freunde, ihre Nicht-Karriere und sich selbst. Sexuelle Eskapaden und ein LSD-Trip Annikas, ein leichter Herzinfarkt Alfreds und Begegnungen mit seinem sozialen Umfeld verschieben die Rollen zusehends. Letztendlich bringt ein Terroranschlag neue Ansatzpunkte, neue Perspektiven. Die Ausstiegsszene ist sachte und leise, lässt offen.
Die Protagonistin ist eine junge, unabhängige Frau, die die Unverbindlichkeit ihrer Beziehung genießt und der alle Möglichkeiten offenstehen, ohne dass sie sich auf die beengenden Konsequenzen von Karrierestandards, Ehe, Kindern und Eigenheim einlassen müsste oder wollte. Sie will keine Erwartungen erfüllen, weder die gesellschaftlichen, noch die der Familie. Und doch lasten genau diese Erwartungen auf ihr. Im Grunde ist es eine traurige Geschichte, denn sie ist in ihrer Verweigerung genauso gefangen, wie die Menschen um sie herum, deren Lebensentwürfe sie spitzzüngig zerlegt und ablehnt. Wenngleich die Abrechnungen immer nur innerlich stattfinden. Die stille Annika hält sich zurück, wirft niemandem etwas auch nur annähernd mit der Wucht und Gnadenlosigkeit vor, die in ihrem Inneren herrschen.
Annika ist viel zu vehement in ihrer feministischen Sichtweise, als dass sie sich auf einen dieser Lebensentwürfe einließe, die ihrem Empfinden nach allesamt nur daraus bestehen pralle bis verrunzelte Erbsen von der Soll- auf die Habenseite zu schieben. Zu den Erbsenzählern will sie keinesfalls gehören. Sie verwehrt sich der Werte- und Konsumgesellschaft, besteht auf die Freiheit ihrer Entscheidungen, weit weg von Regeln und Normen der Gesellschaft oder sonstigen, auch nur biedermeier-bürgerlich anmutenden Werten und Zielen.
Gleichzeitig ist Annika selbstkritisch. Die Eigenbetrachtung ihres Lebens wirft Zweifel auf, stellt Fragen, lässt verdrängte Gefühle aufblitzen. Die Zäsur des 30. Geburtstages schwingt mit.
Gertraud Klemm zieht durch die Erzählperspektive sofort in die facettenreiche Gedanken- und Gefühlswelt der Protagonistin Annika. In einem Monolog reflektiert die Ich-Erzählerin ihr Leben sowie das der Menschen um sie herum und beleuchtet gnadenlos aktuelle Themen der Gesellschaft. So bleibt der Kulturbetrieb genauso wenig verschont vor ihrer scharfsinnigen Analyse, wie Entwicklungen in der Kindererziehung oder im Gesundheitssystem.
Humorvoll, mit einigen unerwarteten Wendungen, erzählt Klemm die Auseinandersetzung der jungen Erzählerin mit feministischen Frauenbildern, Lebensentwürfen, Dynamiken in der Familie und der Suche nach dem eigenen Platz in der Gesellschaft.
Kommt die Protagonistin der Balance zwischen Freiheit und Bindung in ihrem Leben auf die Spur?
Martina Bachtrögler, Juli 2018
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Gertraud Klemm: Erbsenzählen
Graz – Wien: Literaturverlag Droschl, 2017
160 Seiten
EUR 19,00
ISBN: 978–3‑99059–006‑5