Eskalationsstufen – Barbara Rieger
Eine Rezension von Britta Mühlbauer
Wieso hat sie ihn denn nicht verlassen? – Wenn Frauen von ihren Partnern misshandelt oder getötet werden, taucht unweigerlich diese Frage auf. In Barbara Riegers drittem Roman „Eskalationsstufen“ sind wir live dabei, wenn die Ich-Erzählerin Julia, eine junge Künstlerin am Anfang ihrer Karriere, immer tiefer in eine emotionale und ökonomische Abhängigkeit zu einem älteren Kollegen schlittert.
Es beginnt mit einem Kapitel Null. Die Ich-Erzählerin liegt gefesselt und geknebelt „auf dem Fell eines Schafs oder ist es der Pelz eines Wolfs“. Schon in diesem Halbsatz zeigt sich, wie viel Andeutung Barbara Rieger über die Sprache in den Text einfließen lässt.
Julia schwankt zwischen Todessehnsucht und der Hoffnung, sich befreien zu können. Der Prolog legt eine bedrohliche Stimmung über den Text. Ich bin vorgewarnt. Bis zum Ende des Romans (und darüber hinaus) werde ich mir Ausstiegsszenarien für Julia ausdenken und auf ein glimpfliches Ende hoffen. Genauso wie sie.
Julia arbeitet als Deutschtrainerin, bis sie von der Kunst wird leben können, sie ist liiert mit David, der, obwohl ständig auf Geschäftsreise, Stabilität und Sicherheit in ihr Leben bringt. Bei einer Ausstellung lernt sie Joe kennen, einen im Kunstbetrieb bereits etablierten Maler. Er bietet sich als Mentor an, macht aber von Anfang an klar, dass er vor allem an einem erotischen Abenteuer interessiert ist. Ihn umgibt ein Geheimnis, das Julia zugleich anzieht und abstößt: Er malt ausschließlich tote, offensichtlich ermordete Frauen.
Julia begegnet Joes Avancen zunächst mit Ironie, gibt sich cool, macht auf femme fatale. Tatsächlich ist sie erotisch angefixt, liefert sich Joe mehr und mehr aus, verliert den Boden unter den Füßen, erkennt sich selbst im Spiegel nicht mehr und beginnt schließlich an ihrem Verstand zu zweifeln.
Joe, der sich nach außen elegant und kultiviert gibt, ist ein manipulativer, beziehungsunfähiger Egomane, der möglicherweise, das deutet der Text nur an, ein Frauenmörder ist. Julia ist seine „trophy-wife“. Statt sie in ihrer künstlerischen Entwicklung zu fördern, untergräbt er nach und nach ihr Selbstwertgefühl. Sie soll ihm lieber Modell stehen als selbst zu malen.
Es gelingt ihm, sie von allen Menschen zu isolieren, die ihr emotionalen und ökonomischen Rückhalt bieten. Und Julia spielt mit. Sie trennt sich von David, kündigt ihren Job, entfremdet sich von ihrer Familie.
Joe kann andere hervorragend manipulieren, auch jene Frauen, die im Kunstbetrieb etwas zu sagen haben. Ausstellungsmacherinnen und Politikerinnen verkauft er seine Gewaltdarstellungen als Verarbeitung des Schmerzes über den Verlust seiner Frau, deren mysteriöses Verschwinden nie aufgeklärt wurde. Auch Julia möchte Joe von seinem Schmerz erlösen, obwohl er sie psychisch und, auch das klingt im Text nur an, vielleicht körperlich verletzt. Bis zum Schluss kämpft Julia dagegen an, zu Joes Opfer zu werden, und kann sich trotzdem nicht von ihm lösen.
Die Faszination der Ich-Erzählerin für den bad guy erinnert an die klassische Schauerliteratur. Barbara Rieger nutzt Elemente des Schauerromans – das verbotene Zimmer, die abgeschiedene Hütte, das Doppelgänger-Motiv, Vorausdeutungen, Warnungen, Träume und Visionen –, nicht nur für den Spannungsaufbau, sondern auch, um der Komplexität einer Gewaltbeziehung gerecht zu werden.
Der Roman setzt um, was sein Titel verspricht. Die Spannung eskaliert Stufe für Stufe. Und jedes Mal lässt die Autorin hoffen, dass doch noch alles gut werden könnte. Dass Joe ein besserer Mensch wird, dass Julia sich aus seinem Bann befreien kann, dass Kapitel Null nicht das Ende darstellt – sondern was? Eine weitere Eskalationsstufe? Wo und wie soll es enden? Große Literatur lässt das die Leser:innen entscheiden.
Britta Mühlbauer, im März 2024
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich.
Barbara Rieger: Eskalationsstufen
Wien: Kremayr & Scheriau 2024
224 Seiten
16,99 EUR
ISBN 978–3‑218–01422‑9
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