Wien – Berlin: Wo die Moderne erfunden wurde – Jens Wietschorke

Eine Rezen­sion von Brigitta Höpler

Bereits der Titel erzählt viel über das Buch und die Heran­ge­hens­weise des Kultur­wis­sen­schaft­lers und Stadt­eth­no­logen Jens Wietschorke.

Der Gedan­ken­strich verbindet und trennt zugleich, unter­bricht und gibt Raum zwischen zwei Begriffen. In diesem Fall zwischen zwei Städten, Wien und Berlin. Der Autor spannt den Raum weit auf und spricht selbst von einem kultu­rellen Magnet­feld, einer ausge­spro­chen inten­siven Anzie­hungs- und Absto­ßungs­ge­schichte, die die beiden Metro­polen mitein­ander verbindet.

Das Inhalts­ver­zeichnis ist quasi ein Text­teil für sich, eine verdich­tete Über­blicks­er­zäh­lung in Listenform.

Das Buch selbst ist keine verglei­chende Kultur­ge­schichte, sondern unter­sucht den verglei­chenden Blick selbst, den berei­chernden Wechsel der Perspek­tive, die Zirku­la­ti­ons­pro­zesse zwischen Klischee und Wirklichkeit.

Dem Autor gelingt eine facet­ten­reiche, über­ra­schende und höchst vergnüg­liche Über­set­zung der beiden Städte in Musik, Theater, Lite­ratur, Feuil­leton, entlang der Kultur­schaf­fenden, ihren Schau­plätzen und Wirkungskreisen.

Zugleich ist das Buch eine inspi­rie­rende und gut zu lesende Abhand­lung, wie sich Städte über­haupt ergründen und analy­sieren lassen. Wie sich Schichten frei­legen lassen und Geschichte sich entblät­tert. Von Grund auf, im wahrsten Sinn des Wortes. Das Kapitel „Der glatte und der gekerbte Raum“ ergründet den Einfluss der Topo­gra­phie, der Beschaf­fen­heit der Land­schaft, des Bodens, die sozialen Ober­flä­chen Pflaster und Asphalt.

Der glatte Raum, tenden­ziell ahis­to­risch, der gekerbte Raum histo­risch gewachsen. Berlin, die glatte, flache und gerade Stadt – Wien, die gekerbte, gefal­tete verwin­kelte Stadt. Was wiederum Einfluss auf die Fort­be­we­gung, die Rhythmen in der Stadt hat, auf die Blickachsen.

Sehr inter­es­sant auch das Kapitel „Ein Feuil­le­ton­stoff par excel­lence“.
Der Blick weitet und vertieft sich von der touris­ti­schen Benut­zer­ober­fläche der Städte hin zum Subtext, zur schwie­rigen Suche nach alter­na­tiven Stadterzählungen.

Der Abschnitt „Was nicht im Baedeker steht“ erzählt von jour­na­lis­ti­schen und verle­ge­ri­schen Unter­neh­mungen in diese Rich­tung. So etwa die Reihe „Groß­stadt-Doku­mente“ des Jour­na­listen Hans Ostwald, für die auch der Wiener Sozi­al­re­porter Max Winter schrieb.

Ich teile mit dem Autor die Über­zeu­gung, dass jede Stadt eng mit einem Geflecht aus Mythen, Erzäh­lungen und Bildern verbunden ist, die ihre Einzig­ar­tig­keit unter­streicht, so wie die Lust, das Unbe­wusste einer Stadt zu erfor­schen, in der Stadt Einge­schrie­benes, Verschüt­tetes frei­zu­legen, den Subtext einer Stadt zu lesen und nicht zuletzt die Wahr­neh­mung der Stadt als Palimpsest.

Ganz bestimmt berei­chert das Buch meine beiden BÖS-Work­shops Urbane Text­felder und Wegbe­schrei­bungen – Gehen und Schreiben. Da gibt es viele Berüh­rungen, Ergän­zungen, Erkennt­nisse und Inspirationen.

 

Brigitta Höpler, im März 2024

Für die Rezen­sionen sind die jewei­ligen Verfas­se­rInnen verantwortlich.

 

Jens Wiet­schorke: Wien – Berlin: Wo die Moderne erfunden wurde
Stutt­gart: Philipp Reclam jun. Verlag 2023
345 Seiten
26 Euro
ISBN 978–3‑15–011442‑1

 

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