Lily und Jack – Ulrike Winkler-Hermaden
Eine Rezension von Britta Mühlbauer
Graz, Mitte der 1930er Jahre: Lilys Mutter, die aus armen bäuerlichen Verhältnissen stammt, wünscht sich für ihre Tochter, dass diese es einmal besser haben möge als sie. Der erste Schritt zum sozialen Aufstieg ist eine Zimmer-Küche-Wohnung in Graz. Nachdem die Nationalsozialisten in Österreich die Macht übernommen haben, gibt es plötzlich viele freie Wohnungen. Lilys Mutter macht sich keine Gedanken darüber, warum.
Lily fühlt sich bei den Jungmädeln wohl. Ihr wird eine Zukunft als Führerin beim Bund deutscher Mädchen in Aussicht gestellt. Auch der sportbegeisterte Jack fügt sich, trotz eines rebellischen Großvaters, in die nationalsozialistische Zurichtungsmaschinerie der Hitlerjugend und der Lehrerbildungsanstalt ein.
In ihrem neuen Buch beschreibt Ulrike Winkler-Hermaden, wie rechtschaffene Menschen einem mörderischen Regime vertrauen, weil es scheinbar ihre persönlichen Ambitionen fördert und ihr Streben nach finanzieller Sicherheit und sozialem Aufstieg unterstützt. Was mit den jüdischen MitbürgerInnen passiert, und dass die Zeichen bald auf Krieg stehen, wird ausgeblendet. Angst und Opportunismus bringen alle Zweifel zum Schweigen.
Schweigen und Verschweigen sind zentrale Themen in Ulrike Winkler-Hermadens Buch. Nach dem Krieg, den sowohl Jack als auch Lily und ihre Familie relativ glimpflich überstehen, wird niemand mehr über die Vergangenheit sprechen. Die enttäuschten Hoffnungen, die Erinnerung an die Sorge um den in Frankreich stationierten Vater, die Angst in den Bombennächten, das Töten und das Sterben im Krieg, werden verdrängt. Lily geht sogar soweit, sich für ihr Leben mit Jack einen neuen Vornamen zuzulegen.
„Ich erinnere mich für dich“, sagt die Ich-Erzählerin – Lilys Tochter – am Ende des Buches. Sie versucht, anhand spärlicher Andeutungen und historischer Fakten zu rekonstruieren, was ihre Eltern und Großeltern verstummen ließ.
Mit dem für sie charakteristischen lakonischen Stil kommt Ulrike Winkler-Hermaden ihren Figuren ganz nahe, ohne sie zu denunzieren, und gewinnt dem ernsten Thema Momente entlarvender Komik ab.
Britta Mühlbauer, Mai 2019
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Ulrike Winkler-Hermaden: Lily und Jack
Schleinbach: Edition Winkler-Hermaden, 2019
98 Seiten
EUR 18,00
ISBN 978–3‑9504625–9‑3