Seemann spricht – Ulrike Winkler-Hermaden
Eine Rezension von Britta Mühlbauer
Seemann, eine alte Frau, die eigentlich anders heißt, und deren Name – so viel sei verraten – etwas mit Freddy Quinn zu tun hat, möchte Bilanz über ihr Leben ziehen und dafür braucht sie eine Zuhörerin.
Susanne ist Gerichtsreporterin. Als Seemann sie zu sich zitiert, ist Susanne auf dem Sprung in den Urlaub. Im Waldviertel will sie ihrer Leidenschaft nachgehen, zufällige Beobachtungen zu fiktiven Geschichten zu verarbeiten. Im Moment beschäftigt sie der Mann mit den karierten Anzügen, den sie im Park vor ihrer Wohnung entdeckt hat.
Seemann und Susanne verbindet eine gemeinsame Vorgeschichte, die erst am Ende des Textes erzählt wird, als überraschende Pointe (es gibt noch eine zweite), wie es bei einem Text, der die Gattungsbezeichnung Novelle trägt, sein soll.
Susanne will Seemanns Geschichte eigentlich nicht hören. Sie findet, dass die meisten Menschen den Unterhaltungswert ihrer Biografie überschätzen. Sie wird feststellen, dass sie sich bei Seemann diesbezüglich gründlich getäuscht hat.
Durch die Sprache des Textes, die wie mündliches Erzählen klingt, und die detailreichen, stellenweise minutiösen Schilderungen von Szenen und Vorgängen hat man als Leser:in den Eindruck, unmittelbar dabei zu sein – beim Erzählen und im Erzählten. Beide Verfahren – die Illusion von Mündlichkeit und die genaue Beobachtung – ergeben einen Realitätseffekt, der den Leser:innen den Eindruck vermittelt, das Erzählte sei „wirklich“ und „wahr“. Doch mitten in diese Gewissheit setzt die Autorin kleine Irritationen und ungeheuerliche Behauptungen, die sowohl die Leser:innen als auch Susanne zweifeln lassen, ob man Seemanns Geschichten glauben kann.
Seemann, Susanne und deren erfundene Figur, der Mann mit den karierten Anzügen, definieren Glück und Zufriedenheit sehr unterschiedlich. Während Susanne und ihr Protagonist die Dinge an sich herankommen lassen, stellt Seemann hohe – teils widersprüchliche – Ansprüche ans Leben und an die drei Männer, die in ihrer Biografie eine Rolle spielen. Die Enttäuschung ist vorprogrammiert, Seemann beendet die Beziehungen, eigenen Angaben zufolge, auf drastische Weise. Überraschend und spannend zu lesen.
Britta Mühlbauer, im Februar 2024
Für die Rezensionen sind die jeweiligen Verfasser:innen verantwortlich.
Ulrike Winkler-Hermaden: Seemann spricht
Schleinbach: Edition Winkler-Hermaden 2023
120 Seiten
22 EUR
ISBN 978–3‑9519762–1‑1
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