Soviel man weiß – Florian Gantner
Eine Rezension von Britta Mühlbauer
Auf den ersten Blick sieht in Florian Gantners Roman alles ganz einfach aus. Es gibt vier Protagonist:innen, die im selben Haus wohnen, sich hin und wieder über den Weg laufen, einander beobachten und beobachtet werden.
Marek, ein Anthropologiestudent und Listenschreiber, ist überzeugt, dass man mit einer Handvoll Daten und einem Algorithmus alle Geheimnisse erkunden kann. Nachdem er sich auf einer Party in eine Frau namens Bea verliebt, versucht er vergeblich, sie ausfindig zu machen, was ihn ordentlich aus der Bahn wirft.
Illir Zerai, ehemals Radiosprecher in Albanien, konnte seine Meinung über Enver Hoxhta nur schlecht verhehlen und litt unter der ständigen Angst, verhaftet zu werden. Als er das Land endlich verlassen konnte, musste er seine Angehörigen zurücklassen. Nun wird er von Erinnerungen an die Vergangenheit und von Schuldgefühlen heimgesucht und verrennt sich in Paranoia.
Agnes, eine neugierige und eifersüchtige Jungärztin, überwacht und manipuliert ihren Freund mittels Handy-Apps. Sie kümmert sich um Illir Zerai, der anscheinend an einer Hautkrankheit leidet. Denn sie ist Ärztin und sie will etwas über die geheimnisvolle Vergangenheit ihres albanischen Nachbarn erfahren. Ihr eigenes Geheimnis, das sie in ganz neuem Licht erscheinen lässt, kommt erst am Schluss heraus.
Mirjam, Verkäuferin in einer Trafik und mit vierzig immer noch überzeugte Punkerin, ist Teil einer Anarcho-Gruppe, deren Mitglieder sich nicht darauf einigen können, was subversiver wirkt: Störaktionen, Unterwanderung oder direkter Angriff. Mirjam widerstrebt jede Gleichmacherei. Sie hat keinen großen Gesellschaftsentwurf, aber sie weiß, was sie für sich will, so wenig das auch sein mag.
Aus den Gedanken und Erfahrungen der Protagonist:innen entsteht ein Netz aus Zusammenhängen und Widersprüchen, das einfache Lösungen nicht mehr zulässt. Und der Zufall macht die Sache nicht einfacher. Pläne funktionieren nicht wie vorgesehen, und wenn doch, stellen sich erreichte Ziele als fragwürdig heraus.
Beim ziellosen Surfen im Netz stößt der Student Marek auf ein Zitat von Paul Valéry, das Gantners Text auf den Punkt bringt: „Zwei Gefahren bedrohen beständig die Welt – die Ordnung und die Unordnung.“
Bea, die Frau nach der Marek verzweifelt sucht, meint, dass eine zeitgemäße Literatur die Unklarheit und Unverständlichkeit der Welt spiegeln und eine „Literatur der Unsicherheit“ sein müsse. Man könnte Florian Gantners Roman diesem Genre zuordnen. Er räumt mit der Illusion auf, dass es einfache und eindeutige Wahrheiten gibt.
Doch anders als in der „Paranoia-Prosa“ von Beas Lieblingsautor (dessen Namen sich Marek nicht merkt, bei dem es sich möglicherweise um Don Delillo handelt) müssen Gantners Figuren sich nicht damit abfinden, dass sie einsam und machtlos sind. Ihnen bleibt die Freiheit, sich hin und wieder ganz anders zu verhalten, als es der Algorithmus, die Leser:innen und sie selbst erwarten.
Britta Mühlbauer, November 2021
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Florian Gantner: Soviel man weiß
Salzburg: Residenz Verlag 2021
256 Seiten
22 EURO
ISBN 978–3‑7017–1748‑4
Mehr zum Verlag
Mehr zum Buch
Mehr zum Autor
Mehr zu Britta Mühlbauer