Zorn und Stille – Sandra Gugic
Eine Rezension von Barbara Rieger
Vom braun glänzenden Einband des Romans blickt ein weißer Hase. Ob Billy sich an das Kaninchen erinnere, fragt Billys Mutter eingangs, als sie anruft, um ihr den Tod des Vaters mitzuteilen. Neben dem Hasen, der in allen Erinnerungen auftaucht, sind Zorn und Stille wiederkehrende Motive des Romans, wobei Mutter und Tochter die zornigen, Vater und Sohn die stilleren Figuren sind.
„Zorn und Stille” erzählt die Geschichte einer Gastarbeiterfamilie aus dem ehemaligen Jugoslawien, gibt sowohl den Eltern, die nach Österreich einwanderten, als auch der „zweiten Generation” eine Stimme, legt Generationskonflikte offen und zeigt, wie sie durch Migration verschärft werden, sowie durch die Kriege im ehemaligen Jugoslawien. Erzählt wird aus der Perspektive der verschiedenen Familienmitglieder zu verschiedenen Zeiten, es ist ein Eintauchen in die unterschiedlichen, sich überschneidenden Erinnerungen von starken Figuren, verwoben mit deren momentanem Erleben und mit historisch-politischen Details.
Da ist Billy Bana, als Biljana Banadinović noch im ehemaligen Jugoslawien geboren und als Gastarbeiterkind in Wien aufgewachsen. Mit siebzehn brach sie, unter anderem aufgrund unterschiedlicher politischer Anschauungen, mit ihrer Familie und erfand sich mit Hilfe ihrer Freundin und Geliebten Ira Goldfrab neu. Sie wurde zu einer erfolgreichen Fotografin, die ein Leben als moderne Nomadin führt. Ihren Bruder Jonas Neven, mit dem sie als Kind innig verbunden war, ließ sie zurück. „Es gab nichts, womit ich meinen Verrat wiedergutmachen hätte können.” Später, als er wieder ihre Nähe sucht, weicht sie der Konfrontation mit diesem Teil ihrer Identität aus und lehnt es ab ihn auf einer Reise in das ehemalige Jugoslawien zu begleiten, von der er nicht wiederkehrt.
Da ist Billys Mutter Azra, auch sie verließ ihre Eltern und die patriarchale Enge des Dorfes, sie kämpft mit dem spurlosen Verschwinden ihres Sohnes, gibt Interviews, besucht eine Selbsthilfegruppe, weigert sich zu vergessen und loszulassen, genauso wie sie sich weigert, ihre Tochter aufzugeben.
Da ist der Vater Sima, der ebenso mit seiner Herkunftsfamilie brach, sich mit Azra in Wien eine große Wohnung erarbeite, zum „Vorabeiter und Ausländer” befördert wurde, nach der Sollbruchstelle in seiner Familie sucht, in der das Wort „Heimat” immer mehr zum Reizwort wurde, und seine beiden Kinder vermisst.
Während wir uns im ersten Teil (Billy, September 2016) mit Billy auf dem Weg nach Belgrad zum Begräbnis des Vaters befinden, im zweiten Teil (Azra, Juli 2008) die Geschichte von Billys Mutter erfahren, uns im dritten (Sima, Mai 1999) der Figur des Vaters annähern, kommt das vierte Familienmitglied, der jüngere Bruder Jonas Neven im vierten Teil (Billy, Januar 2018) nur indirekt zu Wort: Seine verlassene Reisetasche, mit Aufzeichnungen und von Billy gemachten Bildern ist in einer serbischen Kleinstadt aufgetaucht und hat seinen Weg zurück zu Billy gefunden. „Dass wir am Ende alle zu Geschichten werden, die jemand anderer erzählt”, lesen wir mit Billy dort unter anderem. Als Billy zum Begräbnis ihres Vaters nach Belgrad reist, trifft sie nicht nur ihre Mutter, sondern auch auf die Aufnahmen ihres Vaters, die sich in einer Wohnung befinden, die er ohne das Wissen der Familie gemietet hatte.
Sie bleibt dort ein Jahr, fotografiert, führt Interviews und kommt zu dem Schluss: „Ein Vierteljahrhundert danach, und immer noch findet sich keine Einigung auf eine Lesart der Vergangenheit, der Nachkrieg um Erinnerung und Bewältigung hält weiter an.”
Was für den Krieg gilt, mag wohl auch für die Familie gelten. So oszilliert der Roman zwischen dem Großen und dem Kleinen. Er steckt voller berührender Szenen – ohne kitschig zu sein -, und nicht zuletzt voller poetischer Sätze, die man sich unterstreichen und herausschreiben möchte.
Barbara Rieger, September 2020
Für die Rezensionen sind die jeweiligen VerfasserInnen verantwortlich.
Zorn und Stille: Sandra Gugic
Hamburg: Hoffmann und Campe, 2020
240 Seiten
EUR 24,70
ISBN: 978–3‑455–00976‑7